■ Wie die offizielle serbische Propaganda versucht, die Demonstranten zu denunzieren: eine Rhetorikanalyse
: Ans Meer mit Milošević!

„All das verläuft nach einem eingespielten Szenario.“ Diese „Wertung“ der mehrwöchigen Demonstrationen der Bürger Belgrads wiederholt sich in fast jedem Bericht der regimetreuen Medien.

Warum? Weshalb nimmt gerade die Wendung „nach einem eingespielten Szenario“ einen so wichtigen Stellenwert im propagandistischen Repertoire ein, mit dem das Regime sich bemüht, die aktuellen Massenproteste gegen die Usurpation der Kommunalregierung anzuschwärzen?

Es ist nicht schwer zu verstehen, warum gerade das Wort „Szenario“ ein geeignetes propagandistisches Mittel ist. Diese Vokabel suggeriert, daß die Demonstranten etwas ausführen, was zuvor und an einem anderen Ort geplant wurde. Die Demonstranten sind also manipulierte Vollstrecker eines fremden Willens, Schauspieler und Statisten in einem Film, der von jemandem ausgedacht und inszeniert wurde, der ihnen fremd und fern ist. Dieser Jemand ist in Wirklichkeit ihr Feind, das heißt ein Volksfeind. Daher wurde in den Večernje novosti ein Artikel über die Demonstrationen in Belgrad mit dem Titel „Szenario gegen das Volk“ versehen.

Wenn man dem „Szenario“ das Attribut „eingespielt“ (oder „bekannt“, „erprobt“, „gewohnt“ usw.) verleiht, wird die Formel um einen neuen Komplex suggerierter Vorstellungen bereichert. Im Zentrum steht nun, daß die Proteste keine Neuigkeiten sind, sondern nur die Wiederholung von etwas, was einmal oder mehrmals passiert ist, demzufolge auch kein Ereignis im eigentliche Sinne. So wird der Eindruck vermittelt, daß sich auf den Demonstrationen jeden Tag das gleiche wiederholt, daß es keinen Fortschritt gibt, daß der erste Tag und der 21. Tag gleich sind, daß die Demonstrationen ein eintöniges und sinnloses Umhergehen im Kreis bzw. Treten auf der Stelle sind. Die Demonstrationen verlaufen also „nach eingespieltem“ oder „nach alltäglichem Szenario“ in „festgefahrener Manier“. Man besteht darauf, daß sich die Demonstranten auf der „gewohnten Trasse“, „dem gleichen Weg“, „zur gewohnten Zeit“, „in gewohnter Weise“ bewegen. Es ist, so ein Bericht der offiziellen Nachrichtenagentur Tanjug, die „unendliche Wiederholung derselben, hauptsächlich friedlichen Bilder“. Die Redner, heißt es immer wieder, tun nichts anderes, als ihre „alten Forderungen“ und „ihre bekannte Rhetorik“ zu wiederholen. Der Zweck dieser Formeln ist, die Demonstrationen als „unwahre Bewegung“ darzustellen und ihnen so symbolisch Einhalt zu gebieten.

Dieses Propagandabild wird durch ein weiteres ergänzt. Darin erscheint die Opposition als vergeblicher Versuch, in die Historie zurückzukehren. So bietet die Opposition zum Beispiel eine Erneuerung von Tschetniktum und Faschismus. Die Tschetniks auf den Demonstrationen in Belgrad wurden von L. Ristić gesehen, die Faschisten vom Präsidenten des serbischen Parlaments, Tomić. Letzterer erklärte, die Proteste der serbischen Bürger seien „zerstörerische, gewalttätige Demonstrationen mit allen Eigenschaften profaschistischer Gruppierungen und Ideologien“. Tomić entdeckte auch den wahren Autor des „Szenarios“: „Erinnern Sie sich doch nur an die Machtergreifung Hitlers.“

Die Pointe dieser, gelinge gesagt, skandalösen historischen Parallelen ist nicht, daß die Proteste als Sache des Tschetniktums oder Faschismus gedeutet werden. Das wichtigere Ziel scheint hier zu sein, sie mit etwas Altem, Überlebtem, Untergegangenem in Verbindung zu bringen. Tschetniks und Faschisten passen der serbischen Propaganda als Symbole historisch besiegter Kräfte und aller untergegangenen Ideen. Diese Rolle können auch Kommunisten und Marxisten spielen. So wird der rebellische Richter des Verfassungsgerichts Serbiens, Vučerić, in der Borba als „Mann, der praktisch bis gestern ein orthodoxer Kommunist und Mitglied des Präsidiums Serbiens“ war, beschrieben. Und der Kommentator von Radio Beograd griff Vuk Drašković als Mann an, der sein „wahres Gesicht gezeigt hat: daß er in der Seele Kommunist und Marxist ist“.

Wenn sie sich denn entschließt, die aktuellen Proteste zur Kenntnis zu nehmen, malt die Propaganda sie wie ein magisches Drehen im Kreis, nach dem „üblichen Szenario“. Bei Betrachtung dieses trostlosen Bildes könnte man sagen, daß Tage, Jahre, Jahrzehnte nicht genug sein werden, bis die Bürger Serbiens, leichtgläubig der Opposition folgend, so im Spazierschritt trippelnd, ihrem eigenen Schatten hinterher, aus diesem Kreis heraustreten werden.

Aber sie könnten es. Natürlich. Sie müßten die Verlogenheit des – von der Opposition vorgegebenen – Szenarios durchschauen. Denn es gibt den richtigen Weg, den Weg der Hoffnung und des Fortschritts, den Weg der Zukunft, den Königsweg. Tatsächlich, die Autobahn.

Denn die Autobahn (sogar ein ganzes Autobahnnetz!) bietet die serbische Regierung den Bürgern als Ersatz für den Fußpfad im Kreis, auf dem die Opposition durch die Städte Serbiens spaziert. Damit widerlegt Milošević die Meinung, er habe keine richtige Antwort auf die Proteste, er schweige. Schon seit Tagen gibt es die Antwort, und seit Tagen wird sie wiederholt. Denn die Nachricht vom Bau der transjugoslawischen Autobahn, die von den Präsidenten Serbiens und Montenegros vermeldet und danach freudig durch die Medien des Regimes verbreitet wurde, ist die direkte Antwort auf die Proteste. Es ist sicher kein Zufall, daß das grandiose Bauprojekt, das just nächstes Jahr beginnen soll, ausgerechnet jetzt so pompös und von höchster Stelle lanciert wird.

Dies verdeutlicht die Anordnung der Nachrichten über diese zwei scheinbar unverbundenen Ereignisse. Seite vier bringt verschiedene schlechte Nachrichten über die Demonstrationen, die sich im Kreise bewegen, ihr gegenüber stimmt Seite fünf das Lied über die zukünftige Autobahn Belgrad–Bar an, mit dem Titel: „Ans Meer vierspurig“. Dies wiederholt sich, wenn uns auf Seite sechs der Titel „Szenario gegen das Volk“ Angst einjagt, während uns auf der gegenüberliegenden Seite Trost durch den mit ebenso großen Buchstaben geschriebenen Titel eines weiteren Poems über die zukünftige Autobahn erwartet: „Entschlossen in die Zukunft“.

Also, es gibt eine Alternative, es gibt eine Wahl. Jetzt gilt es zu entscheiden: Entweder wir drehen uns weiter auf den kalten Straßen im Kreis, oder wir wenden uns dem Meer, dem warmen Süden, der hohen See, den blauen Fernen zu. Ivan Čolović

Übersetzung aus dem Serbokroatischen: Katharina Wolf-Grießhaber