Der Wahnsinn hat durchaus Methode

Für das Massaker an Rote-Kreuz-Mitarbeitern in Tschetschenien wird eine ominöse „Dritte Kraft“ verantwortlich gemacht. Ein politischer Hintergrund ist nicht auszuschließen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Kein normaler Mensch würde so etwas tun“, lautete die erste Reaktion der EinwohnerInnen im tschetschenischen Nowye Atagi auf den Mord an sechs Rote- Kreuz-MitarbeiterInnen in der Nacht zum Dienstag. Doch wenn es auch Wahnsinn ist, hat es doch Methode. Die Frage bleibt, ob dieser Wahnsinn nicht politisch motiviert war. „Wir bemühen uns, das Ganze zu untersuchen, aber ich bin davon überzeugt, daß es sich um eine große Provokation gegen den Frieden in Tschetschenien handelt“, erzählte ein Milizoffizier den Reportern im Dorf.

Daß die Täter aus Rußland ferngesteuert wurden, will auch Arkadi Wolski nicht ausschließen. Der Vorsitzende des russischen Industriellen-Verbandes hatte im Sommer 1995 als ehrlicher Makler den Friedensprozeß in Tschetschenien eingeleitet. Am Dienstag abend, in der Fernsehsendung „Held des Tages“, erinnerte er an die Terrorakte, die ihn um das Resultat seiner Bemühungen brachten und den Krieg wieder aufleben ließen: Am 7. Juli 1995 fand man in Grosny sieben Mitglieder einer Familie – nebst Säugling und Großmutter – mit durchschnittenen Kehlen in ihren Betten. Im folgenden Oktober wurde der damalige Oberbehlshaber der Truppen des Innenministeriums in Tschetschenien, General Romanow, Opfer eines Sprengstoffanschlages. Bis heute liegt er im Koma. Wolski: „Eine derartige Tat war wieder zu erwarten“.

Die tschetschenischen Machthaber weisen dagegen alle Verbrechen in ihrem Zwergstaat einer „Dritten Kraft“ zu, jenseits der russischen Militärs und des tschetschenischen Volkes. Julija Kalinina, erfahrene Kriegsberichterstatterin der Moskauer Tageszeitung Moskowski Komsomoljez, bezeichnete die sich ausbreitende Nachkriegskriminalität im Lande als „Dritte Schwäche“ der Feldkommandeure und wirft diesen vor, sich vor der Verantwortung für das Geschehen im eigenen Staate zu drücken. Der Mord hatte einen Hintergrund. VertreterInnen von Hilfsorganisationen waren häufiger Opfer von Erpressern und Kidnappern. Rebellenführer Schamil Bassajew gab kürzlich der Reporterin gegenüber zu, daß in der provinziellen Gesellschaft seines Landes kaum jemand einen Schritt unternehmen kann, der den Nachbarn verborgen bleibt. Er propagiert daher staatlich verordnete Sippenhaft als Allheilmittel gegen die Kriminalität. Julija Kalinina führt die Ineffektivität der Milizionäre dagegen auf deren eigene Angst vor der Vendetta zurück. Und ihre Hilflosigkeit gegenüber dem Geiselnehmer Salman Radujew auf ihren verzopften Ehrenkodex, der sie hinderte, den größenwahnsinnigen Excompañero rechtzeitig zu entwaffnen. Die tschetschenischen Machthaber werden sich bald an einem ganz normalen Kriminalgesetzbuch orientieren müssen, folgert Frau Kalininina: „Sonst gräbt die ,Dritte Kraft‘ ihnen selbst das Grab“.