Tödlich wach in Eisenach Von Wiglaf Droste

Wer Dormagen überstanden hat, den kann nichts mehr schrecken, dachte ich mir, und so schimpfte ich auch nicht, als Gerhard Henschel anrief und mir mitteilte, daß wir Mitte Dezember gegen eher symbolisches Salär gemeinsam in der „Erlebnis-Buchhandlung im Marktkauf-Einkaufscenter“ in Eisenach zur Lesung antreten sollten. „Auf nach Dunkeldeutschland!“ shouteten wir noch übermütig, um schon recht bald in einer menschen- und gottverlassenen Einkaufspassage zu sitzen, auf Kaffeehausstühlchen, linker Hand einen Humphrey Bogart-Pappaufsteller mit Weihnachtsmannmütze, rechts von uns einen Pappschneemann mit Plastikmöhrennase, vor uns siebzehn zum Amusement bereite, ja wild entschlossene Eisenacherinnen und Eisenacher, und als Gerhard Henschel zu lesen anhub, schlurfte aus einer Eisdiele ein Mann heraus, um im sauren Argot der Thüringer zu vermelden, er müsse hier „erstmol abgossion“, was er denn auch tat, denn die Veranstalter hatten, ich will die Schmach nicht feige verschweigen, eine sogenannte „Mischkalkulation“ verbrochen: 15 Mark Eintritt für Autorenlesung, Soljanka, kaltes Buffet und Getränke, was sie Gerhard Henschel und mir natürlich keineswegs vorher gestanden hatten, und jetzt saßen wir da und hatten den Salat, der den Veranstaltern als solcher aber gar nicht auffiel; vor allem der eine der beiden Besitzer der „Erlebnisbuchhandlung“, ein Herr Eberitzsch aus dem Hannöverschen, war noch Stunden später jovial und aufgeräumt und begeistert von sich und seiner Kulturarbeit, die er hier in Eisenach leiste; vertraulich fügte er hinzu, die Ossis könne man glatt vergessen, aber er zeige denen schon, was Kultur sei, und mir fiel die alte Schlagzeile der Super-Illu wieder ein, „Angeber- Wessi mit Bierflasche erschlagen – ganz Bernau ist froh, daß er tot ist“, und konnte sie plötzlich, wie man so sagt, „nachvollziehen“.

Der „Kompagnon“ von Herrn Eberitzsch, wie Herr Eberitzsch ihn nannte, ein Herr Bohlsen aus dem friesischen Leer, war dagegen ein anderes, ein freundlicheres Kaliber, weshalb ich auch betonen möchte, daß ich die Martin Luther- Postkarten, die ich entwendete, ausschließlich Herrn Eberitzsch gestohlen haben möchte, nicht aber Herrn Bohlsen.

Herr Bohlsen nämlich erzählte niedliche Geschichten über den KZ-Look-Sänger und -Dichter Stephan Krawzcyk, der derzeit von der Literaturkritik gute Noten dafür erhält, daß er wenigstens nicht mehr singt; Krawzcyk war einige Wochen zuvor in Eisenach zu Gast gewesen und hatte beim Bier aus dem Nähkästchen geplaudert, bevor er, wie Herr Bohlsen in fröhlicher Gehässigkeit mitteilte, jede anwesende Frau angepöbelt habe, mit ihm „ficken“ zu sollen, allerdings immerhin vergeblich.

Jedenfalls habe Krawzcyk wiederholt behauptet, ich hätte ihm im März 1988 nur deshalb den taz- Willkommensgruß zur Einweisung in die BRD – „Nimm‘ ihn wieder, Erich!“ – geschrieben, weil ich zuvor versucht hätte, bei Freya Klier vor Anker zu gehen, aber „abgeblitzt“ sei, wie Krawzcyk, so Herr Bohlsen, gezetert habe – eine Person, die ich in diesem Leben bislang niemals kennenlernen mußte, und weil diese Eisenacher Geschichtsschreibung der Literatur Krawzcykscher Provinienz dann doch nicht unkomisch ist, wurde sie hier erzählt.