NS-Deserteure bald rehabilitiert?

■ Bundesrat will NS-Militärurteile aufheben lassen. CDU/CSU blockiert seit Jahren Gesetz im Bundestag

Berlin (taz) – In die seit mehr als zwei Jahren festgefahrene Debatte um die Rehabilitierung von Wehrmachtdeserteuren ist wieder Bewegung gekommen. Mehrheitlich verabschiedete gestern der Bundesrat in Bonn einen Gesetzentwurf, mit dem die Urteile der nationalsozialistischen Militärjustiz gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und sogenannte Wehrkraftzersetzer pauschal aufgehoben werden sollen. Zugleich sieht der Antrag, der von der rot-grünen Landesregierung von Sachsen-Anhalt eingebracht wurde, eine Entschädigung der NS-Opfer vor.

Jedem Verurteilten oder ihren Hinterbliebenen würde danach eine einmalige Zahlung von 7.500 Mark zugebilligt. Zugleich wird ein wegweisendes Urteil des Bundessozialgerichts von 1991 aufgegriffen, das den Nachkommen eines Deserteurs die Kriegsopfer-Entschädigungsrente zuteil werden ließ. Nach dem Gesetzentwurf erhielte künftig jeder verurteilte NS-Deserteur automatisch die Kriegsopferrente und müßte sie nicht mehr, wie bisher, gerichtlich erstreiten.

Der sachsen-anhaltinische Vorstoß ist insofern auch mutig, weil er die derzeitige Rechtsauffassung auf den Kopf stellt, die bislang die grundsätzliche Rechtmäßigkeit von NS-Militärurteilen bejaht. Dagegen wiederholte die Magdeburger Justizministerin Karin Schubert (SPD) gestern die Haltung ihrer Regierung und sprach von „Akten eines Terrorsystems“.

Ob der Bundestag den Gesetzentwurf mittragen wird, steht allerdings dahin. Das Thema beschäftigt das Parlament seit mehr als zwei Jahren. Im September 1994 wurde ein SPD-Antrag mit ähnlichem Tenor von der Unionsmehrheit in den Rechtsausschuß überwiesen. Mehrmals wurde seitdem versucht, doch noch einen interfraktionellen Antrag durch das Parlament zu bringen. Haupthindernis ist die starre Haltung der Mehrheit in der CDU/ CSU-Fraktion, insbesondere um den Ex- Wehrmachtoffizier Alfred Dregger und den rechtspolitischen Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Geis (CSU). Beide beharren darauf, Deserteure nur zu rehabilitieren, wenn ihre Verurteilung auch nach heutigen Maßstäben Unrecht wäre. Große Teile der CDU/CSU-Fraktion verlangen darüber hinaus, daß die Deserteure die „ehrenhaften Motive“ für ihre damalige „Fahnenflucht“ konkret und im Einzelfall nachweisen sollten.

Dagegen halten die Befürworter einer Rehabilitierung die Verurteilungen prinzipiell für rechtswidrig, weil die Deserteure sich weigerten, unrechtmäßigen Befehlen zu folgen. Ähnlich wie die Magdeburger Landesregierung hatte im November die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Aufhebung der Urteile verteidigt. Eine Rehabilitierung, so der damalige Beschluß, bedeute keine Abwertung der meisten Weltkriegsteilnehmer, die sich aus „Vaterlandsliebe“ ihrer Pflicht nicht entzogen hätten.

Der rechtspolitische Sprecher der Bündnisgrünen, Volker Beck, nannte den Beschluß des Bundesrats einen „wichtigen Vorstoß“ und forderte den Bundestag auf, noch vor dem nächsten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine Entscheidung zu treffen. Die Blockade der Union sei eine „Blamage für das gesamte Parlament“ und eine „Schande“ für die Bundesrepublik.

Nach Schätzungen der in Bremen ansässigen Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz leben derzeit noch rund 300 Deserteure der früheren Wehrmacht. Ingesamt wurden zwischen 1933 und 1945 rund 25.000 Todesurteile gegen Deserteure, Wehrdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ vollstreckt.

Severin Weiland Kommentar Seite 10