: Übervater im Wilden Westen
■ Kulturgeschichts-Mythos Aby M. Warburg nach langer Reise wieder zu Gast
Es gibt Mythen und solche, die sie erforschen. Wenn Mythenforscher selbst zum Mythos werden, beginnt die Sache kompliziert zu werden. Am Donnerstag wurde dem französischen Strukturalisten Claude Lévi-Strauss in Hamburg der Aby-M.-Warburg-Preis verliehen. Und als Hommage an den Übervater der Anthropologie zeigt das Warburg-Haus über fünfzig Fotos, die der Hamburger Kulturforscher Aby Warburg vor hundert Jahren auf seiner Reise zu den Pueblo-Indianern in New Mexico, USA, gemacht hat.
Damals war es noch möglich, an den Ritualen der Hopi teilzunehmen und diese auch zu fotografieren, was heute strikt verboten ist. Die vor zwei Jahren im Londoner Warburg-Archiv wiederaufgefundenen Fotos dokumentieren zum einen eine in dieser Form versunkene Kultur, zum anderen geben sie Einblick in jene rezeptionsgeschichtlich mythisierten Monate, die eine ebenso nachdrückliche wie geheimnisvolle Rolle im Leben Warburgs spielten.
1895 reiste er zur Hochzeit seines Bruders nach New York und begab sich schon bald, seinen kulturübergreifenden Interessen folgend, fort von den kultivierten Städten in den noch „wilden“ Südwesten. Er kaufte eine „Buck's Eye“, eine der ersten Handkameras, und begab sich auf Feldforschung nach den symbolischen Formen bei den „primitiven“ Völkern.
In ungestellten Momentaufnahmen hielt er den städtischen Luxus und den Aufbau des Westens fest und dokumentierte Leben und Tänze der Indianer. Mit dem vergleichenden Blick eines an der Antike geschulten Europäers meinte er dort zwischen kosmologischen Ornamenten und Katchina-Puppen, im Schlangen- und Humiskatchina-Tanz den ekstatischen Anteil der Antike wiederzufinden. Nur fünf Jahre nach dem Massaker an den Sioux in Wounded Knee führte ihn gerade sein Eurozentrismus zu respektvoller Beobachtung der Lebensweise und der Rituale, die er nicht als Kuriosum goutierte, sondern als hohe kulturelle Leistung auf der Stufenleiter menschlicher Sublimationen.
Aus Santa Fe brachte er zahlreiche ethnologische Objekte mit nach Hamburg und schenkte sie dem Museum für Völkerkunde, wo sie auch heute noch archiviert sind, eine andere, unmittelbare Folge hatte die Reise vorerst nicht. Was er darüber hinaus mitbrachte, läßt erst ein fast dreißig Jahre später gehaltener Vortrag erkennen – und der wurde in einer Heilanstalt gehalten. Denn 1919 versagten Warburgs ordnende Geisteskräfte: Er hatte sich in den endlosen Gängen der imaginären Universalbibliothek verloren und mußte sich für sechs Jahre in einem Schweizer Sanatorium aufhalten.
Als Beitrag zur Genesung und Beweis seiner Fähigkeit zu wissenschaftlichem Arbeiten hat er dort am 21. April 1923 einen Dia-Vortrag über die Pueblo-Indianer gehalten. Und so verbindet sich die kulturanthropologische Analyse des Überlebens durch symbolische Rituale bei den Hopi mit dem individuellen Kampf Warburgs, eine stabile Form und einen sublimen „Denkraum“ wieder zu gewinnen. Dieser philosophische Reisebericht ist als subjektive Wissenschaft ein kreatives Paradox und war vom Autor selbst nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Doch 1938 wurde der Text vom Londoner Warburg Institute publiziert, die deutsche Übersetzung erschien erst 1988 unter dem Titel Schlangenritual.
Im Warburg-Haus, dem als Forschungsstätte restaurierten Ort der 1926 eingeweihten, 1933 mit sechzigtausend Büchern nach England in Sicherheit gebrachten „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg“ (KBW), sind nun viele der Indianer- und Reisefotos erstmalig zu sehen. Die jetzige Fotoausstellung ist über Datenaustausch und Wissenschaftlerbesuche hinaus die erste offizielle Zusammenarbeit des Londoner Instituts mit dem Hamburger Gründungsort. Hajo Schiff
Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, Mo-Fr 10-12, 14-16 Uhr, bis 31. Januar
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