Ein schönes Mädchen namens „Mama“

■ „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ von Koltès in der Bochumer Zeche Hannover

Der Mann dreht sich auf Knien im Kreis. Er trägt ein blaues Hemd, ein nobles Sakko, einen teuren Mantel. Das Regenwasser auf dem Boden und die Kreideflecken, die sein feines Tuch beschmutzen, bemerkt er nicht einmal. Immer schneller kreist er um sich selbst, immer wieder schreit er „Mama“. Verzweifelt, sehnsüchtig, monoton. Eine Frau im Publikum faßt ihre Nachbarin bei der Hand.

Der das Premierenpublikum so packt, heißt Bernd Grawert. Schauspieler am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, zuletzt stand er als Graf Orsini in Karin Baiers Inszenierung von Shakespeares „Was ihr wollt“ auf der Bühne. Jetzt watet er in der alten Maschinenhalle der Zeche Hannover am Rande Bochums durch Erde. „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ gibt er dort, das dritte Stück des Franzosen Bernard-Marie Koltès, der 1989 an den Folgen von Aids starb.

Grawerts Hamburger Arbeitgeber hat ihn eigens für das Projekt mit dem Essener Regisseur Martin Baucks freigestellt. Die beiden Männer (34 und 35 Jahre alt) kennen sich noch aus ihrer Studienzeit an der Essener Folkwangschule und erfüllten sich nun den Traum einer eigenen Produktion. Der Bochumer Regisseur Dimiter Gottscheff, Roberto Ciulli aus Mülheim und der ehemalige Düsseldorfer Intendant Volker Canaris schauten schon vorbei, und das Hamburger Schauspielhaus, so hört man, hätte das Stück gern in seinem Malersaal.

Lange waren die Theatertouristen aus dem Ruhrgebiet, aus Hamburg und Berlin durch die alte Bergwerkssiedlung in Bochum- Hordel gekurvt, bis sie hinter der hohen Mauer im Dezemberdunkel die Förderanlage von 1856 erreichten. 23 Jahre ist es her, daß die letzte Lore hier fuhr. Heute sind die erhaltenen Gebäude als Museum zugänglich. Neben Ausstellungen über den historischen Ruhrkampf bietet die restaurierte Anlage aber auch Schützenfesten mit Grillwürsten Raum oder auch mal einem Theaterprojekt.

So prangt in 30 Meter Höhe, am mächtigen Malakoff-Turm der Zeche, jetzt ein Koltès-Plakat. Die ZuschauerInnen bahnen sich den Weg zwischen Rohren und grauen Lappen, in Abendgarderobe ducken sie sich durch die Katakomben, bis sie finden, was sie suchen: ihren Sitzplatz. Eine Dampffördermaschine, Deutschlands älteste an ihrem Standort erhaltene, windet sich geräuschvoll. Vorn auf der Bühne geht ein Mann. Auch er scheint auf der Suche. Hektisch zeichnet er mit greller Kreide Wege, Kreuzungen, Ecken auf den Boden und versieht sie mit Zahlen. Sehnt er sich nach Strukturen, nach Beschäftigung?

Jedenfalls sehnt er sich nach einer Zigarette und nach einem Menschen, mit dem er reden kann. In der Metro ausgeraubt und zusammengeschlagen, findet er sich allein in der verregneten Nacht wieder – oder versucht es zumindest. Er erinnert sich an eine Hure, die er zwischen Gräbern beobachtete, an das schöne Mädchen, das sich „Mama“ nannte; an seinen Vater „aus Knochen, Muskeln und Blut“, und er erzählt von seiner Idee.

Nein, mit „Politik, den Parteien, den Bullen und der Armee“ will er nichts zu tun habem. Es soll vielmehr ein Syndikat von internationalem Ausmaß sein. „Nur zum Schutz“, schnurrt er und schaut an die Wand. Ein Vogelnest hängt dort, und Grawert nimmt das Ei zärtlich in die Hand. Ein schöner Regieeinfall, kein kitschiger. Denn kitschig kann der massige Mann auf den Steinplatten zwischen der Erde gar nicht wirken. Ein Moment der Hoffnung in einem dunklen Stück.

Der Regisseur Baucks konzentrierte sich ganz auf seinen Darsteller Grawert. Und der wiederum deutet die nur leicht gekürzte Vorlage ausführlich psychologisch aus. Schauspielertheater, eine Ein- Mann-Realität. Requisiten wie das weiße Vogelnest oder ein Stuhl im Hintergrund fallen einem erst auf, wenn Grawert nach ihnen greift, ein Gameboy und unzählige Stücke Kreide kommen sowieso aus seiner Manteltasche.

„Nicht immer ist der, der einen anhaut, auch der Schwächere“, sagt er, als er eine Zuschauerin um Feuer bittet. „Ich habe sofort gesehen, daß du nicht sehr stark ausgesehen hast“, pöbelt er weiter und fokussiert sie mit irrem Blick, um gleich selbst nervös zu blinzeln – ohne Gegenüber ist der taffe Mann („mich könnte man Vollstrecker nennen“) nur ein fahriger Schatten seiner selbst.

Irgendwann sitzt er auf einer Bank und reflektiert seine Situation. In der Hand hält er einen frisch getöteten Karpfen. Da schiebt er langsam die Unterlippe vor, bekommt große Fischaugen, und man glotzt selbst ganz starr zu, wie ihm das Blut des Fisches die Hände entlangrinnt. Er wiegt das eingewickelte Tier in den Armen wie eine Mutter ihr Kind. Oder wie Max Beckmann, als er sich vor über 60 Jahren porträtierte, sein fischfarbenes Saxophon.

Minutenlanger Beifall bei der Premiere, dann zog man sich an und ging raus in den Nebel – in die dunkle, kalte Nacht hinter den alten Bochumer Schloten. René Aguigah

„Die Nacht kurz vor den Wäldern“ von Bernard-Marie Koltès. Regie: Martin Baucks. Mit Bernd Grawert. Zeche Hannover, Günnigfelder Straße, Bochum. Nächste Aufführungen am 21./22., 27. bis 29.12., 3. bis 5.1.