Wenn aus Koketterie jeder herumsüchtelt

■ Suchtexpertin Merfert-Diete über die heikle „Karriere“ vom Kaufrausch zur Sucht

taz: Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren, für die Sie arbeiten, beschäftigt sich mit den verschiedenen Suchtgefahren von der Drogen- bis zur Spielsucht. Ist Kaufrausch ebenfalls ein Thema?

Christa Merfert-Diete:Es ist gut, daß Sie nach Kaufrausch fragen, denn allzuhäufig wird in diesem Zusammenhang von Kaufsucht gesprochen. Für uns stellt sich ernstlich die Frage, ob man von Kaufsucht überhaupt sprechen kann. Das Phänomen, daß Menschen zuviel kaufen und sich im Kaufprozeß verlieren und süchtig werden, ist sehr umstritten.

Wie definieren Sie Sucht?

Um Definitionen wird natürlich in der Wissenschaft immer noch gestritten. Nach wie vor gelten die Festlegungen der Weltgesundheitsorganisation von 1956 und 1964. Demnach handelt es sich bei Sucht um Abhängigkeit von einem Mittel, also Alkohol, Drogen, Medikamente usw.

Gibt es dennoch Anzeichen, daß Kaufen in den letzten Jahren ein größeres Problem geworden ist?

Es gibt keine eindeutigen Anzeichen. Das war im Vergleich zur Glücksspielsucht oder dem Problem der Eßstörungen in den 80er Jahren ganz anders. Damals meldeten sich viele Betroffene, die gesagt haben: Ich habe Probleme mit Eßstörungen oder: Ich bin abhängig vom Automatenspiel. Auf den Kaufrausch bezogen haben wir derlei Reaktionen von Betroffenen nicht. Wer sich meldet, sind Medien, die dieses Thema zu ihrem Thema machen wollen.

Menschen mit spezifischem Leidensdruck, der aus übermäßigem Kaufverhalten resultiert, suchen keine Beratungsstellen auf?

Es gibt zweifellos Menschen, die sich verschulden, weil sie zuviel kaufen. Es ist nichts Neues, daß Menschen über ihre Verhältnisse leben. Aber es stellt sich die Frage, ob man die Unfähigkeit, mit Geld umzugehen, als Sucht bezeichnen darf. Daß es Verhaltensweisen gibt, die eine Nähe zur Sucht haben, ist schon um die Jahrhundertwende im Kontext von zwanghaftem Verhalten erforscht worden. Daß Kaufrausch etwas mit Sucht zu tun hat, ist wissenschaftlich jedoch nicht geklärt.

Was raten Sie jemandem, der über seine Verhältnisse lebt?

Er oder sie sollte auf jeden Fall eine fachliche Hilfe in Anspruch nehmen, psychosoziale Beratungsstellen oder Lebensberatungsstellen. Dort sollten sie zunächst klären: Was bedeutet es für mich, daß es mich immer wieder in die Geschäfte treibt. Zuviel zu kaufen kann so gesehen sehr unterschiedliche Probleme ausdrücken.

Sie haben auch Kontakt zu Schuldnerberatungen. Können die eine Kaufsucht feststellen?

Mit deren Hilfe können wir sicher sagen, daß sich immer mehr Menschen verschulden. Ich habe aber den Verdacht, daß mit der Rede von Kaufrausch und Kaufsucht eine versteckte Konsumkritik geäußert werden soll. Da wäre es besser, Konsumkritik direkt zu formulieren.

Warum reagieren Sie so vorsichtig auf das Phänomen Kaufrausch?

Wir haben kein Interesse daran, ein Modethema hochzustilisieren. Ein Kokettieren damit, halt auch ein bißchen süchtig zu sein, wird den Menschen, die massive Schwierigkeiten mit Suchtproblemen haben, überhaupt nicht gerecht. Es schadet den Betroffenen nur, wenn jeder ein wenig herumsüchtelt. Interview: Harry Nutt