Zwischen Rundstücken und Fisch

Morgens um vier in der Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofs  ■ Von Judith Weber

Der Tag beginnt mit totem Fisch. Bevor die ersten Bäckereien im Hamburger Hauptbahnhof ihre Türen öffnen und Aushilfen Käse zwischen Brötchenhälften legen, öffnet pünktlich um 4:30 Uhr der Fischimbiß. Der erste Zug ist noch nicht angekommen, da dampft schon Kaffee neben Matjesbrötchen und Fischfrikadellen. Zehn Minuten später drängen sich erste Reisende um die Tische der Nordsee-Filiale und lauschen verschlafen den Schlagern, die aus Lautsprechern plärren.

Die müde Kundschaft ist begehrt: „Früher gab es einen richtigen Wettbewerb zwischen den Läden“, erzählt ein Bäcker, „wer zuerst öffnete, war Sieger des Tages.“ Doch das Bäckergewerbe hat den Anspruch auf den Spitzenplatz in der Öffnungszeiten-Statistik längst aufgegeben. In der kleinen Bäckerei in der Nähe der Nordsee werden um 4:45 Uhr die ersten Schrippen geschmiert, ab Viertel nach fünf wird verkauft – egal, was die Konkurrenz auf dem Fischsektor tut. „Auf die paar Kunden können wir gut verzichten“, meint der Bäcker. Schließlich kämen vor fünf sowieso keine Züge mit potentiellen Kunden an.

Dem Verkauf scheint diese Taktik nicht zu schaden: Um halb fünf schiebt ein Lieferant einen Brötchenberg auf den Bäckerladen zu, der selbst den fleißigsten Schmierer verzweifeln lassen könnte: 3.000 Rundstücke werden morgens verkauft, am Nachmittag nochmal so viele. Während in der Bäckerei die Buttermesser gezückt werden, schweigen die Nordsee-Kunden. Für ein Frühstück inklusive Kaffee und Zigarette scheint die Zeit geeignet, für Gespräche nicht. Ein Mann in grellroter Daunenjacke fährt sich mit einem Einwegrasierer durch die Bartstoppeln, andere lesen Zeitung.

Bei soviel Eigenbrötlerei macht es fast stutzig, als die Kundschaft beim Bäcker gegen 5:30 Uhr geschwätzig wird. An einem Stehtisch in der Ecke treffen sich die Stammgäste. „Warum soll ich mich zu Hause allein in die Küche setzen?“ fragt eine ältere Frau. Sie trinkt ihren Frühmorgenkaffee lieber im Bahnhof – seit sechs Jahren beim gleichen Bäcker, am gleichen Tisch, in immer gleicher Gesellschaft. „Wir machen uns sogar Geburtstagsgeschenke“, erzählt sie. Ungemütlich sei der Bahnhof nicht, auch nicht unheimlich.

Eigentlich, so meint auch der Bäcker, sei das Leben im Bahnhof nicht anders als in den Einkaufszonen der City – es beginnt nur früher. „Wenn hier um halb acht noch jemand guten Morgen sagt, wird er halt schief angeguckt.“ Schon ab sechs Uhr bilden sich die ersten Schlangen vor Brötchen und Kaffee. Wer nicht anstehen möchte, muß ein paar Läden weiterziehen und sich ein McFrühstück kaufen.

Den Anstehschlagen durch frühes Aufstehen zu entgehen, lohnt sich nicht: Um vier Uhr gleicht die Wandelhalle noch einem verlassenen Einkaufszentrum. „Nachts ist es hier ziemlich uninteressant“, sagt die Siegerin im Wettlauf um die längste Ladenöffnungszeit – eine Kiosk-Besitzerin, die nur nachts für eine halbe Stunde schließt, wenn es gar zu langweilig wird. Ansonsten gibt es bei ihr Kaffee rund um die Uhr. Unangenehm wird es, wenn man zuviel davon trinkt: Denn bis auf eine Toilette sind alle „öffentlichen Bedürfnisanstalten“ im Bahnhof bis sechs in der Frühe geschlossen.