Don Carlos, ein Zeitgenosse

■ Premiere im Schauspielhaus: „Don Carlos“ als kunstvoll an König, Kirche und Mutter Leidender

Blutiger ist der Vorhang im Schauspielhaus noch nie geöffnet worden. Mit schweren Schlägen treibt sich Don Carlos direkt vor den Augen der Zuschauer einen Nagel in die Hand. Zuckt. Stöhnt. Blutet. Im Schmerz bäumt sich der Verstümmelte auf, reißt sich den angenagelten Finger ab und dabei die Leinen los, die den Vorhang für Barbara Bilabels Inszenierung von Schillers Freiheitsvision Don Carlos öffnen.

So furios der Start des Abends, so gewalttätig die Umstände, als Schiller 1787 Don Carlos aufführen ließ. Er war aus der schwäbischen Heimat geflohen, um nicht gefangengesetzt zu werden, flüchtete nun monatelang von Versteck zu Versteck: „Die Räuber kosteten mich Familie und Vaterland – mitten im Genuß des ersten verführerischen Lobes, das ungehofft und unverdient aus entlegenen Provinzen mir entgegenkam, untersagte man mir in meinem Geburtsort bei Strafe der Festung – zu schreiben.“

Schreibverbot bei Festungsstrafe

Als er es doch tat, wählte er den spanischen Hof des Phillip II. um 1560 zum Handlungsort. Hier von Freiheit zu träumen hieß, sein Leben zu wagen.

Und genau das tut der jugendliche Prinz Don Carlos in seinem Fieberrausch, ebenso wie sein treuer Freund Marquis von Posa, den Schiller dem realen Carlos in humanistischem Wunschdenken an die Seite stellte. Dort, wo das Zeremoniell minutengenau regelt, wann die Königin das eigene Kind sehen darf, schmieden sie Pläne zur Befreiung der unterdrückten flandrischen Provinzen. Und der verwirrte Kornprinz hofft, die Liebe seiner jungen Stiefmutter zu erringen.

Das jedoch wird ihm zum Verhängnis, machen intrigante Höflinge schon jeden Gedankenflug zum Spießrutenlauf. Barbara Bilabels Inszenierung balanciert dreieinhalb Stunden lang auf dem Grat einer fiebrigen Leidenschaftlichkeit, eingezwängt in die eisenschweren Zwänge der höfischen Rituale.

Die Lösung für die Bühne könnte theatralischer nicht sein. Knirschend und knarrend drehen sich Seile auf großen hölzernen Rollen, um illusionistische Säulen aus alter Leinwand permanent von links nach rechts schweben zu lassen.

Auf der freien und spärlich möblierten Bühne bewegt sich von der ersten Minute an eine schwere Bühnenmaschinerie, wie sie in längst vergangenen Jahrhunderten in Theatern gebräuchlich war. Die Räder der Geschichte knirschen, mahlen und zerquetschen das Individuum.

Schmerzlich deutlich ist dies im staunenswürdigen Spiel des Dirk Plönissen als Carlos, der seit seinem ersten Selbstzerstümmelungsauftritt konsequent als Junkie mit bandagierten Handgelenken, hängenden Hosen und weichen Knien über die Bühne schlurft. Vom Gefallenen ist es kein weiter Weg mehr zum Objekt.

Der Mensch als Klöppel

In einem besonders schönen Bild hängt Carlos kopfüber am Seil und wird vom Pagen hin und her geschwungen. Dazu hört man die Glocken einer großen Kirche: der Mensch als Klöppel im katholischen Spanien. Hinter der nächsten Ecke lauern die Häscher der Inquisition. Und diesen entgeht Carlos dann letztendlich auch nicht, obwohl ihn Pierre Besson als Marquis von Posa souverän und vernunftbegabt zu retten sucht.

„Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ klingt wie neu

Am Ende stirbt der Marquis freiwillig einen sinnlosen Gewalttod. Zu stark sind die Kräfte, die die Macht repräsentieren. Allen voran Phillip II., König von Spanien, den Detlev Greisner als kalten Macher und herzlosen Vater spielt, der seinen Sohn nicht lieben kann. Irene Kleinschmidt spielt die perfide Prinzessin von Eboli als eine verführerische Mischung aus verruchter Intrigantin und unbefriedigter Edeldame.

Immer wieder gelingt es, Momente zu schaffen, die dicht sind. Ein glücklich zusammengestrichener Text bietet Raum für das Spiel der Protagonisten. Sogar das oft gehörte „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ klingt wie neu.

Gekleidet in die Straßenmode von heute, gewandet in den Geist der 90er, bedarf es keiner weiteren Aktualisierung und keiner weiteren politischen Anspielung auf Systeme, in denen die Menschenrechte ebenso mit den Füßen getreten werden wie hier die Seelen der Schillerschen Figuren. Ein Schlafsack und der Pop-Song „Killing me softly“ genügen, und wir verstehen, Don Carlos ist nach 200 Jahren wieder einer unserer Zeitgenossen.

Susanne Raubold

Nächste Aufführungen: 25.12.; 9.1., jew. 20 Uhr, Schauspielhaus