Instabilität und Weltmachttrauma

■ Noch sucht Rußland seinen Platz in der Welt. Eine erweiterte Nato könnte wieder Identität stiften – antiwestlich

Die Frage einer Osterweiterung der Nato produziert immer wieder wechselnde Schlagzeilen. Polen, Ungarn, Tschechien und die baltischen Länder wollen so rasch wie möglich beitreten. Hinter ihrem Wunsch steckt nicht nur die Hoffnung auf den wirtschaftlichen Nutzen oder die ideologische Figur einer Verteidigung des zivilisierten Europa gegen das barbarische Asien. Hinter ihm steckt auch die realistische Furcht vor möglichen politischen Dynamiken in Rußland, zum Beispiel in Gestalt einer imperialistischen Regierung.

Die Nato-Länder wollen ihre potentiellen Verbündeten nicht vor den Kopf stoßen, sind aber zurückhaltend. Denn eine Osterweiterung könnte gerade das verursachen, was sie verhindern soll: Die Russen könnten aus nationaler Empörung eine imperialistische Regierung wählen und damit die gesamte Region destabilisieren. Oder eine gemäßigte russische Regierung könnte, um eine Machtergreifung extremer Nationalisten zu verhindern, selbst imperialistisch agieren. Die westliche Vorsicht beruht also auf psychologischen Erwägungen, die nette Erzieher gegenüber unberechenbaren Kindern einsetzen. Die Konfliktscheu ist in jedem Fall begründet.

Die russischen Verantwortlichen reagieren inkonsistent. Mal sind sie realistisch: Soll sich die Nato doch erweitern und die Befürchtungen Rußlands mit einigen Dollars dämpfen. Mal sind sie kategorisch ablehnend: Die Nato an den russischen Grenzen stelle eine militärische Bedrohung dar, auf die man reagieren werde.

Die außenpolitische Inkonsistenz hat gewichtige innenpolitische Gründe. Viele Menschen in Rußland müssen sich noch daran gewöhnen, nicht mehr Bürger einer Supermacht zu sein. Diese nationale Demütigung wird durch keinen wirtschaftlichen Wohlstand kompensiert. Die Gefahr, die von imperialistischen Verzauberungen ausgeht, bleibt bestehen.

Die psychologisch begründete Gefahr hat eine strukturelle Basis. Die Sowjetunion war die zweite Großmacht einer bipolaren Welt. Für den Westen war sie ein stabiler und berechenbarer Feind, mit dem Kompromisse möglich waren. Viele Vertreter der Dritten Welt hielten die Sowjetunion für einen natürlichen Verbündeten. Im sowjetischen Herrschaftsbereich hingegen war die sowjetische Dominanz überwiegend unwillkommen und ließ wider Willen den fernen freien Westen erstrahlen. Schon vor der Perestroika hatte die Sowjetunion einen entscheidenden Nachteil. Zwar exportierte sie Waffen und das noch skrupelloser als die westlichen Staaten; außer Waffen, Öl und Gas hatte sie aber kaum etwas zu liefern. Und je mehr die Jahre ins Land gingen, desto zurückhaltender wurden materielle Hilfen an das befreundete Ausland. Die längst offenkundige wirtschaftliche Schwäche wurde nur durch eine Art Symmetriegefühl ausgeglichen. Weil die Sowjetunion so groß und hochgerüstet war, blieb sie die zweite ernstzunehmende Weltmacht.

Gleichwohl war das Verhältnis zwischen den beiden Großmächten nie symmetrisch. Die USA waren weltweit wirtschaftlich, politisch, kulturell und wissenschaftlich dominierend. Die Sowjetunion versuchte, in Teilbereichen wie der Rüstung mitzuhalten und im übrigen durch Täuschung Stärke zu suggerieren. Bei allen Entbehrungen konnten die Sowjetbürger zumindest jenes Angebot wahrnehmen, sich als Bürger einer Großmacht zu fühlen, egal, wie sich deren Anspruch legitimierte.

Problematisch wurde die Identifikation mit der Großmacht unter der Perestroika. Sie verschwand endgültig mit der Auflösung der Sowjetunion. Rußland, das international das Erbe der Sowjetunion antrat, verbarg seine Schwäche nicht mehr und beanspruchte doch, weiter Großmacht zu sein. Die ehedem herausragende internationale Stellung der Sowjetunion, die schiere Größe Rußlands und die Menge seiner Einwohner, die Quantität seiner Rohstoffe und nicht zuletzt die Atomwaffen – alles das macht Rußland weiter groß.

Dem stehen als Schwächefaktoren gegenüber: Das innenpolitische und das wirtschaftliche System Rußlands sind kaum steuerbar. Der wirtschaftliche Umbau hat nicht zu einem technisch avancierten Industriekapitalismus geführt, sondern zu einer Art Impex- Kapitalismus, in dem riesige Vermögen über den Handel mit privatisierten Rohstoffen und Geld angehäuft werden und in dem zugleich der Staat verarmt und seine Grundfunktionen nicht mehr ausüben kann. Im Prozeß der kapitalistischen Globalisierung wird Rußland marginal. Die außerordentliche wissenschaftliche und technologische Basis verkommt und mit ihr die Zukunftschancen.

Destabilisierende Großmacht ist Rußland vor allem im Abglanz seiner sowjetischen Vergangenheit. Aber das kann den Westen nicht beruhigen. Denn der Zerfall der staatlichen Steuerungsfähigkeit, die Krise der Staatsfinanzen und die Dominanz des Impex-Kapitalismus machen auch in Westeuropa Fortschritte. Vielleicht ist Rußland dem Westen sogar einmal um eine Nasenlänge voraus. Erhard Stölting, Berlin