Ach, was für ein Land!

Der größte Mafioso ist ungefährlicher als ein altsowjetischer frischer Demokrat aus Jelzins Nest, meint  ■ Gassan Gussejnow

Nachdem Robinson Crusoe auf eine unbewohnte Insel verschlagen worden war, erstellte er ein Protokoll über die Errungenschaften und Verluste, die der Schiffbruch ihm beschert hatte. Er verstand, daß es wichtig ist, auch im Schlechten etwas Gutes zu finden. Der sowjetische Mensch versucht, auch im Guten noch das Schlechte auszumachen. Das drückt sich schon in unserer Sprache aus. Wir bringen es fertig, sogar Kraftausdrücke zu zerreden. Da, wo der Deutsche einfach „Scheiße“ und der Franzose „Merde“ sagt, heißt bei uns „Fick deine Mutter“. Das ist zwar auch vulgär, aber viele sehen darin sogar noch einen Ausdruck für die Liebe zur Heimat.

Man sagt, zum Beispiel: Ach, ihr Robinsons, fick deine Mutter, was für eine Großmacht habt ihr zerstört. Solch eine Stimmung herrscht bei den russischen Politikern vor und auch bei den sogenannten einfachen Leuten. Vielen in Rußland scheint es, daß die UdSSR keine historische Periode, keine Vergangenheit, sondern ein entzauberter Raum ist. Mit dem Verlust und der Aufgabe dieses Raumes haben die ehemaligen Sowjetbürger ihre Unschuld verloren. Und jetzt erlauben sie sich ein seltsam einfaches Verhalten auf ihrem irgendwie neuen und unbewohnten Kontinent. Und primitivere Menschen als Politiker gibt es in Rußland nicht.

So scheint die erste und wichtigste Errungenschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, daß die politische Doppelzüngigkeit verschwunden ist. Es sind sehr einfache Beziehungen entstanden. Das geht so: man zieht eine Frau im Parlament an den Haaren, und das eigene Ansehen in der Bevölkerung steigt. Oder so: Man bombardiert einige Städte im eigenen Land und setzt seine politische Laufbahn fort. Dafür gibt es ein russisches Sprichwort: Bescheidenheit ist schlimmer als Diebstahl. Diebe schätzt man in Rußland und bestraft sie nicht.

Die Menschen sind nur mit dem abstrakten Anwachsen der Kriminalität unzufrieden. Hingegen registrieren sie schadenfroh, wenn Banker und Geschäftsleute umgebracht werden. Für sie ist ein Wolf der Sanitäter des Waldes und der Bandit der Sanitäter des Marktes.

Fast niemand zahlt Steuern, aber fast alle verlangen vom Staat ihre Gehälter. In den fünf Jahren, seit dem Tod der Union, haben es die von der Sowjetmacht in die Freiheit entlassenen Bürger geschafft, den Staat zu privatisieren. Im neuen Rußland gibt es doppelt so viele Staatsbedienstete wie in der alten Sowjetunion. Unter solchen Bedingungen müßte sogar ein Dummkopf begreifen, daß ein Staat, selbst ein ehrlicher, die Gehälter für alle nicht aufbringen kann. Aber der junge russische Staat hat es schon geschafft, ein wenig zu faulen. Ihm gefallen seine wenig findigen Bürger nicht, sie und ihre Forderungen sind ihm lästig. Er schlägt ihnen deshalb vor, sich um ihre eigenen Dinge zu kümmern und die Staatsdiener nicht bei ihrem Leben im Kreise der Mächtigen zu stören. (Nach neurussischer Lesart führt der Staat nicht bestimmte Funktionen aus, sondern ist ein Ort der Obrigkeit).

Präsident Jelzin hat einen Vertreter im Verfassungsgericht: Sergej Schachraj. Vorher war er Berater des Präsidenten für nationale Angelegenheiten. Schachraj überlegte, wie eine kriegerische Operation in Tschetschenien zu organisieren sei, um den aufkommenden Separatismus im Keim zu ersticken: Wir organisieren eine Opposition, rüsten sie mit Maschinenpistolen und Panzern aus, und dann erledigen sich die Tschetschenen gegenseitig. Doch diese Rechnung ging nicht auf. Und eines schönen Tages wurden russische Truppen nach Tschetschenien geschickt. Schachraj flog aus dem Ministerium. Nicht wegen seiner Offenheit, sondern wegen seiner Illoyalität dem Präsidenten gegenüber.

Aus Unerfahrenheit hatte er seine Pläne ausgeplaudert, irgendwann einmal selbst Präsident werden zu wollen. In einer alten Anekdote gesteht der Enkel Breschnews seinem Großvater, daß er davon träumt, einmal Generalsekretär der KPdSU zu werden. „Was denn, Enkelchen“, sagt Breschnew überrascht, „was soll das Volk mit zwei Generalsekretären?“ Dialektik! Was unter Breschnew eine Anekdote war, hat Jelzin mit Leben erfüllt. „Wir brauchen keinen zweiten Präsidenten!“

Millionen Menschen in der ganzen Welt verwechseln ihre Wünsche mit der Wirklichkeit. Das Interessante an der Sowjetunion war, daß ein spezieller Politikertyp zielgerichtet herangezüchtet wurde. Das Wenige, was es an Nützlichem gab, ging zusammen mit der Sowjetunion verloren, der Politiker des oben beschriebenen Typs blieb. Für ihn gibt es im Russischen ein ausgezeichnetes Wort: Mudak. Im wörtlichen Sinne ist das ein Mensch, der mit seinen Genitalien prahlt. Zu Sowjetzeiten wurde derjenige als Mudak bezeichnet, der, „politisch gebildet“, vollkommen in das System eingetaucht war, in die Sphäre der politischen Absurdität. So ein Mensch ist nicht notwendigerweise dumm, aber er ist auf fatale Weise unfähig, die Realität und ihre starre sowjetische Auslegung voneinander zu trennen.

Der Mudak geht bis heute davon aus, daß sich die Partei um ihn kümmert, daß die Völker der Sowjetunion eng befreundet sind, und daß nicht sie, die Mudaki, das Land zerstört haben, sondern Michail Gorbatschow. Der Mudak hat vergessen, daß Gorbatschow den Krieg in Afghanistan beendet hat, aber er erinnert sich daran, daß „die Hure Gorbatschow“ die Antialkoholkampagne losgetreten hat. Nicht ausgeschlossen ist, daß dem Mudak besonders unangenehm ist, daß Michail Gorbatschow den Zusammenbruch der Sowjetunion vorwegnahm, indem er den Mudak öffentlich beim Namen nannte, ihn damit aber gleichzeitig in die Politik integrierte.

Sehr oft äußert sich der Mudak ganz offen: Ach, wäre es doch gut, die Sowjetunion wiederzuerrichten. Aber gleich ist ihm auch klar, daß solche direkten Äußerungen ungünstig sind: westliche Kollegen verstehen das nicht. Und dann redet er von der Unvermeidlichkeit, den postsowjetischen Raum zu integrieren.

Und trotzdem: Rußland kam zurück in sein wohlverdientes, historisches Gleis, und das ehrlich. In der ganzen ehrlichen Widerwärtigkeit einer bürokratischen Maschinerie. O weh, aus allen möglichen Verkehrsmitteln wählte Rußland 1993 Panzer und 1994/95 Bomber aus. Und es ist ein wirkliches Wunder, daß die Russen nicht auf Panzern ins Jahr 1997 fahren. „Ach, was für ein Land haben die Lumpen doch zerstört“, hört man die Parlamentarier reden. Diejenigen, die, wie ich, nicht an die Zerstörung der Großmacht glaubten, sich dieses Szenario aber immer wieder ausgemalt hatten, berauschen sich an der unerwarteten Freiheit. Und die gleichen Schlaumeier, die schadenfroh auf das Ende von Mischa Gorbatschow warteten und nach dem Sieg des vom Volk gewählten Boris dürsteten, haben ihre Lieder von gestern vergessen und verfluchen die früheren Abgötter, aber nicht für ihre Fehltritte.

Gorbatschow wird dafür beschimpft, daß er das Baltikum aufgegeben hat, und nicht dafür, daß er seine Partei vor Gericht und Strafe bewahrt hat. Jelzin wird dafür beschimpft, daß er die Ukraine, Zentralasien und den Kaukasus friedlich entlassen hat, und nicht dafür, daß er er die innenpolitischen Probleme mit Gewalt zu lösen versucht. Die Menschen haben das Wesen der Mudaki längst begriffen, doch im Augenblick fürchten sie noch, sich in ihnen selbst zu erkennen. Es ist schwer zu verkraften, daß nicht das System schlecht ist, sondern daß sich die Menschen nicht würdig benehmen können.

Diese erniedrigende Einsicht wird für Rußland eine massenhafte Desertion vom Schlachtfeld für die Demokratie zur Folge haben. Denn diejenigen, die geglaubt hatten, für die Demokratie zu kämpfen, müssen jetzt erkennen, daß dieser Kampf zu einem Anwachsen der Anzahl der Mudaki geführt hat. „Ich denke, daß der Mensch ein Wesen ist, daß zwar sehr wichtig, aber doch vergänglich ist“, hat Sergej Schachraj gesagt. „Und die Interessen des Staates, seine Perspektiven in Europa stehen über den gegenwärtigen Problemen.“

Irgendwie scheint mir, daß selbst der mafiöseste neue Russe ungefährlicher ist als ein frischgebackener altsowjetischer Demokrat aus Jelzins Nest. Die gelobte Freiheit soll der Mensch nutzen, um seinen Nächsten zu lieben und nicht die Heimat. Um so mehr, als sich das große Rußland wie zu Sowjetzeiten nur dann um sein Menschenmaterial kümmert, wenn von draußen jemand zuschaut. Seid wachsam: Das neue Rußland liebt euch auf die alte Art.

Gassan Gussejnow ist Sprach- und Kulturwissenschaftler und stammt aus Moskau. Momentan arbeitet er an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.

Übersetzung: Barbara Oertel