Das berauschende Erlebnis UdSSR

■ Die Moskauer Rentneraktionsgruppe „Felix“ startet durch: Sie will die Sowjetunion als Märchenpark neu aufleben lassen

Wie die meisten westlichen KorrespondentInnen durchwühlt die Chronistin stets genüßlich die Mülleimer der postsowjetischen Gesellschaft. Auf dem Hofe der Moskauer Stadtduma sah sie kürzlich ein Schreiben mit verwischtem Stempel aus einer Tonne lugen. Das Dokument bezeugt einen lebendigen Geist und die Kraft zur großen Synthese. Wir wollen seinen Inhalt der Öffentlichkeit nicht vorenthalten:

„An den Oberbürgermeister der Stadt Moskau, J. M. Luschkow!

Verehrter Juri Michajlowitsch, mit Tatkraft haben Sie in den letzten Jahren unsere Stadt von manchem öffentlichen Schandfleck befreit. Nun sind uns Ihre Pläne zur Errichtung eines Märchen- und Erlebnisparks zu Ohren gekommen. Wir kennen Sie als ideologisch wenig angekränkelt. Deshalb unterbreiten wir Ihnen unseren Vorschlag:

Auf jenem Gelände, auf dem einst herrliche Pavillons von den Erfolgen unserer Raumfahrt und Viehzucht kündeten, hat sich in den letzten Jahren ein obszöner Basar breitgemacht. An dieser Schwachstelle im Moskauer Weichbild schleust das kapitalistische Ausland Sony-Fernseher sowie synthetische Nahrung ein – Warenfetische, mit denen es die Gemüter und Organismen unseres Volkes in eine schleichende Abhängigkeit versetzt.

Sie selbst aber wollen den Menschen ,Erlebnisse‘ bescheren, wenn wir Ihr Projekt richtig verstehen: eine Mischung aus Gruseln und Staunen. Offenbar mangelt es unserer Bevölkerung heute daran. Die Intellektuellen, die unsere Vergangenheit besudeln, malen gern alle möglichen Defizite an die Wand, unter denen unser Volk früher angeblich litt. Ist es nicht an der Zeit, festzustellen, daß sich über das größte Defizit der menschlichen Seele, das Defizit an Abenteuern im Alltag, damals niemand beschwerte? Haben Sie unseren Vorschlag erraten? Die kostensparendste und würdevollste Realisierung Ihres Planes bestünde darin, das Terrain im Norden Moskaus wieder den Namen verdienen zu lassen, den es einst trug: ,Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR‘.

Der Begriff ,Errungenschaften‘ darf dabei nicht im primitiven Sinne verstanden verden. Deshalb wird es nötig sein, ein wenig Rekonstruktionsarbeit zu leisten. Ihre alte Wirkung können die noch erhaltenen Tempel unserer Planwirtschaft erst erzielen, wenn wir zu ihren Füßen die sowjetische Alltagsrealität wiederherstellen. Künftige Generationen werden uns diese Erfahrung danken.

Hier nur ein paar Anregungen: Zuerst müßten die Besucher vor der krankmachenden Reizüberflutung des gegenwärtigen Moskau geschützt werden. Zu diesem Zweck schlagen wir vor, an den Grenzen des Geländes die Produktion der Jakow-Swerdlow-Tüllgardinenfabrik zum Einsatz zu bringen. Auch Filz sollte – vorzugsweise in Grau – breit ausgewalkt werden. Über dem Eingangstor schlagen wir die Anbringung einer Losung vor: ,Alles für das Wohl des Menschen‘. Damit kein Zweifel daran bleibt, welcher Mensch hier gemeint ist, sollte den Spruch ein Breschnew-Porträt krönen.

Der Eintritt wäre mit jener Münze zu zahlen, die die Jugend nur noch aus Märchen kennt: der Kopeke. Zufrieden konstatieren wir, daß es dem angeblich modernen Rußland im Gegensatz zur Sowjetunion an volksverbindenden Feiertagen fehlt. Unsere Besucher sollten den 1. Mai und 7. November noch tief empfinden dürfen. Zur Förderung der Emotionen erhielten sie an den besagten Tagen sogenannte ,Paiki‘, Geschenkpakete, z. B. mit folgendem Inhalt: 1 Dose grüne Erbsen, 1 Dose Mayonnaise, 1 Flasche Sekt, 1 Wurst (der Sorte ,Doktor‘ oder ,Liebhaber‘), 1 Päckchen Graupen, 1 Päckchen Tee. Außerdem gäbe es jede Menge Eis für 10 Kopeken pro Portion und in den Parkkinos die schönen alten Filme.

Da die Kopekenmenge in den Schubladen der Russischen Föderation hoch einzuschätzen ist, würde sich ganz nebenbei auch jenes inspirierende Phänomen wiederherstellen, für das uns auch kein anderes Wort einfällt als ,Schlange‘. Der gängige Gruß, den jeder Besucher des Wunderparks vorher auswendig lernen müßte, hieße: ,Sie haben hier nicht gestanden!‘ Was die Toiletten im Park betrifft, so müßten sie ohne Trennwände zwischen den Kabinen sein und Löcher in den Wänden aufweisen. Denn was machte die Hauptattraktion des Lebens in der UdSSR aus, wenn nicht das spannende Gefühl, immer und überall beobachtet zu werden?

Sie mögen unser Modell für wirtschaftlich unrentabel halten. Aber Sie dürfen die Attraktivität der Andenkenbuden im Park nicht unterschätzen. Als kleine Auswahl der sicherlich heißbegehrten Waren, die dort für stolze Rubelpreise und Dollars feilgeboten werden könnten, nennen wir nur: Kaninchenfellmützen, Heimlautsprecher (die nur ein Radioprogramm spielen und nicht auszuschalten gehen), Gummigaloschen, schwarze Satinherrenunterhosen (der Marke ,die Familiären‘), halblange, aufgerauhte Frauenunterhosen und rosa Atlasbüstenhalter in Normgröße. Was unsere Menschen betrifft, so gliche der Charakter ihrer Besuche im Park bald schon den Hamsterfahrten, die Provinzler früher nach Moskau unternahmen. Wir schlagen daher vor, die Gelände-S-Bahn außen grün zu streichen. Denken Sie noch an den alten Witz: ,Was ist das? Es ist lang und grün und riecht nach Wurst?‘

Aber wir wollen nicht sentimental werden, hatten wir uns doch schon am 1. Januar 1992 geschworen, für dieses Projekt die Ärmel hochzukrempeln. Helfen Sie uns, unseren Fünfjahresplan in drei Tagen zu erfüllen, und Sie dürfen uns die Ihren nennen!

Rentner-Aktionsgruppe ,Felix‘“, dokumentiert von Barbara

Kerneck