Reise in die sowjetische Vergangenheit

In der Kaukasusrepublik Daghestan scheint die Zeit stehengeblieben: Von Demokratisierung ist hier keine Spur. Dafür verfallen Raketenfabriken, und der Islam ist auf dem Vormarsch
■ Aus Makhatschkala Boris Schumatsky

Auf dem Flug von Moskau in Daghestans Hauptstadt Makhatschkala kann sich Rustam endlich entspannen. In Moskau war er ein Fremder, ein verhaßter „Schwarzer“, und für die Polizei schon wegen seines nichtslawischen Aussehens ein Bandit. An Bord der „Makhatschkala Airlines“ fühlt er sich wieder zu Hause. Rustam klappt die Lehne des vorderen Sitzes nach unten, legt seine Beine drauf und zündet eine Marlboro an.

Die Stewardess wagt ihm nicht einmal zu sagen, daß er sich anschnallen soll. Rustam ist ein „Dschigit“, ein kaukasischer Krieger, und als solcher läßt er sich von niemandem zurechtweisen. Übermäßiger Stolz, aber auch die gegenseitige Achtung macht seit Jahrhunderten das Zusammenleben der vielen Völker Daghestans möglich – Volksgruppen, deren Namen woanders kaum jemand kennt: Awaren, Lesginen, Darginer, oder etwa Taten, die kaukasischen Bergjuden.

Rustam bringt einen zentnerschweren elektrischen Radiator nach Daghestan: Wegen des Konflikts in der Nachbarrepublik Tschetschenien sind die Landwege immer noch gesperrt. Die südlichste Teilrepublik der russischen Föderation, Daghestan, ist seit Jahren von der Außenwelt abgeschnitten, genauso wie von den russischen Reformen: Der Flug nach Daghestan ist eine Zeitreise in die sowjetische Vergangenheit.

Die Hauptstraße vom Makhatschkala heißt immer noch „Leninprospekt“ und führt zum zentralen Lenin-Platz. Dort wurde der Moskauer Rote Platz in Kleinformat nachgebaut: roter Granit, Tribünen für offizielle Kundgebungen und ein Transparent „Es lebe die Arbeit“. Über den Lenin-Platz ragt eine riesige Figur des Begründers des Marxismus-Leninismus.

Daghestan ist die Sowjetunion in Miniatur. Auf einem Territorium so groß wie Dänemark leben 32 Nationalitäten. Außerdem gibt es noch andere kleinere Völker, die oft in unzugänglichen Bergtälern leben. Das Russische ist hier „lingua franca“, obwohl die Russen eine kleine Minorität sind. Von den Nationalitätenkonflikten, die seit der Perestroika in Kaukasien aufgeflammt sind, ist Daghestan bisher verschont geblieben.

Der Preis für den Frieden ist jedoch hoch: Die alten Apparatschiks haben die Republik fest im Griff, und Daghestan ist eine der ärmsten Regionen in der russischen Föderation. Viele Daghestaner schauen mit Nostalgie auf die Sowjetzeiten zurück, und die Republik bleibt ein roter Fleck auf der politischen Karte Rußlands. In diesem Sommer hat die Mehrheit der Daghestaner für den kommunistischen Präsidentschaftskandidaten Gennadi Sjuganow gestimmt.

„Früher war das Leben schön“, sagt der Rentner Ahmed. „Und jetzt werden seit August keine Renten ausgezahlt. Ich war Lehrer, mein Beruf war sehr geachtet.“ Plötzlich bekommt seine Stimme einen militärischen Klang: „Wir haben hier die SS-20-Raketen produziert, die besten in der ganzen Welt. Früher war es ja ein Staatsgeheimnis, aber jetzt kann ich alles zeigen. Genau dort ist es, wo jetzt unser Orientalischer Basar ist.“

Auf dem Weg zeigt Ahmed mit beiden Händen, wie sowjetische Raketen einst flogen: „Ganz tief. Sie waren imstande, alle Hindernisse zu überfliegen; Häuser und Berge, von hier bis nach Afghanistan oder nach Europa.“ Ahmed läuft schneller und kollidiert beinahe mit einer Frau, die einen schweren Sack schleppt.

Aber er ist nicht zu stoppen: „In dieser Halle hat man sie gebaut“, sagt Ahmed und zeigt auf eine riesige fensterlose Produktionshalle. Drinnen ist der Teufel los: keine Spur von Maschinen, dafür Reihen von Verkaufsständen mit Lederjacken, Waschmitteln, Zigaretten, Kosmetika und Teppichen.

„Das ist unsere vielgepriesene Marktwirtschaft: billig einkaufen – teuer verkaufen“, sagt Ahmed bitter. „Auf diesem Basar treffe ich viele Freunde. Früher waren sie Lehrer oder Musiker. Gestern habe ich einen getroffen, der hier als Hydraulikingenieur gearbeitet hat. 25 Meter unter der Erde hat er Raketendüsen getestet. Jetzt ist er Händler, um seine Familie ernähen zu können.“

Wie viele Leute seiner Generation hält auch der 65jährige Ahmed alle Unternehmer für „Spekulanten“, das heißt Schieber. Doch der Handel ist derzeit der einzige intakte Wirtschaftszweig in Daghestan. Seit dem Zerfall der UdSSR werden keine daghestanischen Raketendüsen und Schiffsmotoren mehr bestellt. Sieben der größten Betriebe hier gehörten zum sowjetischen militärisch-industriellen Komplex. Heute schließen sie oder produzieren technisch anspruchslose Konsumgüter.

Das Werk „Dagh Diesel“ mit einst über 17.000 Beschäftigten mußte neun Zehntel der Arbeiter entlassen. „Avia Agregat“ produziert jetzt statt Raketen- und Flugzeugmotoren Blechgeschirr und Gepäckkarren. Letztere werden gleich nebenan, in der umfunktionierten Produktionshalle, in Gebrauch genommen: Unzählige Händler transportieren damit ihre Waren, etwa türkische Lederjacken, die in der Türkei aus dem daghestanischen Rohleder hergestellt werden. Die Bekleidungswerke in Daghestan haben selbst keine Aufträge. Die Direktoren haben weder die notwendige Erfahrung noch Interesse daran, die Produktion umzuorientieren.

„Es werden keine Wohnhäuser mehr gebaut“, erzählt Habib Muslimow, Leiter der Daghestanischen Baubehörde Promstroi. „Unser letzter großer Bauauftrag war diese Produktionshalle. Das war 1990, und die Halle wurde nicht einmal in Betrieb genommen. Irgendein Direktor hat ein Vermögen daran verdient. Solche Leute lassen für sich Paläste bauen, für einfache Leute bleibt im Budget kein Rubelchen übrig“, schimpft er. „Diese Wohnhäuser zum Beispiel sind praktisch fertig“, sagt Habib und zeigt auf neunstöckige Plattenbauten, „aber wir bekommen kein Geld für die Innenausstattung. Sie stehen seit drei Jahren leer und verfallen.“

Die Neureichen in Daghestan sind Leute aus der alten Nomenklatura oder Mafiabosse. Ihre 600er Mercedes wirken wie Fremdkörper auf den Straßen der verarmten Stadt. Genauso wie ihre Villen. Neben den schmutzigen Plattenbauten und winzigen Einfamilienhäusern entstehen gigantische Backsteinbauten, mehrere Gebäude mit orientalischen Türmen und großen Garagen.

Eine alte Frau geht an einem der Paläste vorbei, schimpft leise auf awarisch und spuckt plötzlich in die offene Pforte: „Die haben drei Familien gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, um Platz für sich zu bekommen.“ Sie geht in eine Moschee, die größte auf dem Gebiet der früheren UdSSR.

Das Gotteshaus für die 4.000 Gläubigen ist im gleichen Stil wie die großen Privathäuser gebaut, so daß man dahinter die gleichen Baufirmen und vielleicht auch die gleiche Geldquelle vermuten kann. „Dollar-Islam“ nennen die Daghestaner die voranschreitende Islamisierung der Republik.

1997 wird der 200jährige Geburtstag von Schamil offiziell gefeiert, dem Nationalheld und muslimischen Imam von Daghestan. Der Staatsrat, die Regierung, hat bereits beschlossen, die zweitgrößte Straße in Makhatschkala nach Imam Schamil zu benennen. „Während der letzten Sitzung des Staatsrats haben wir nur knapp dem Druck der Geistlichen standgehalten“, erzählt Badrischat Mahomet-Gadschijewa, die stellvertretende Kultusministerin. „Sie wollten uns ihre Vorstellungen aufzwingen und ein Monument für Schamil bauen lassen, aber ohne seine Figur, weil der Islam bildliche Darstellungen für Götzenbilder hält. Wir haben uns trotzdem für eine normale Skulptur entschieden, um Schamil als Menschen und Volksführer zu ehren. Daghestan soll auch weiterhin ein weltlicher Staat bleiben“.

„Der Islam ist seit Jahrhunderten ein Teil der Kultur unserer Völker“, sagt Ajbike. „Auf dem Land haben die Leute auch zu kommunistischen Zeiten gebetet.“ Ajbike ist in Tabassaransk, im Süden Daghestans aufgewachsen. Damals, vor dreißig Jahren, hatte man sie verpönt, weil sie sich modern kleidete. Heute lebt die Fachschullehrerin nach den Vorschriften des Islam. Doch die strengen Sittenregeln der islamischen Glaubensrichtung des Wahhabismus und die Gesetze der Scharia seien für sie inakzeptabel. „Diese Wahhabiten kommen mit ihren Dollars aus den Arabischen Emiraten zu uns und diktieren ihre Regeln. Ich persönlich werde nie einen schwarzen Schleier tragen und eine Hausfrau spielen. Dies widerspricht unserer Tradition. Auch heute noch lebt Daghestan von der Arbeit werktätiger Frauen.“

Mohamed widerspricht seiner Frau nicht. Doch scheint ihm die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zu passen: Frau und Tochter bleiben in der Küche und dürfen nur ins Eßzimmer, um einen neuen Gang zu servieren, während die Männer über Politik reden: „In Daghestan ist alles in Ordnung, aber überlege dir folgendes: Wir Tabassaraner sind das älteste Volk im Kaukasus und in Daghestan die siebtgrößte Volksgruppe. Das soll heißen, daß, wenn sechs Posten vergeben werden, den siebten ein Tabassaraner bekommt. Nun ist unser Staatschef ein Darginer, der Premierminister ein Kumyke, der Vorsitzender der Völkerversammlung ein Aware. Wir Tabassaraner haben aber nichts. Das ist nicht normal!“

Das System der Ämterverteilung nach Nationalitäten funktioniert seit Sowjetzeiten. Trotz Aversionen zwischen den Ethnien bürgt es für den nationalen Frieden. Nur hat dieses autokratische System nichts mit der demokratischen Wahlordnung zu tun. Die alte daghestanische Elite hat lediglich die Neureichen und Ältesten der nationalen Clans kooptiert. An die demokratischen Wahlen glaubt in Daghestan so gut wie niemand. Alles entscheiden Macht und Geld. Oder, wenn es darauf ankommt, Kalaschnikows. Der daghestanische Abgeordnete in der russischen Staatsduma wurde ermordet, nun finden Nachwahlen statt. Ganz Makhatschkala ist mit Plakaten beklebt: Die alten Apparatschiks stellen kaukasische Pelzmützen zur Schau. Die Islamisten plädieren für die „muslimische Nation des Kaukasus“. Und an jene, die immer noch der Sowjetunion nachtrauern, appelliert der Arbeiter- und Bauernrat: „Genosse, am 8. Dezember 1991 wurde dir deine Heimat, die UdSSR, genommen. Stimme für Gamsatowa, und du stimmst für die Wiedergeburt der UdSSR!“

Doch weder das Sowjetwappen auf den Wahlplakaten noch die Porträts von Stalin und Lenin verhalfen den Kommunisten zum Sieg. Das Geld des islamischen Kandidaten entschied die Wahlen, und am nächsten Tag machte das Café „Josef Stalin“ am Orientalischen Basar dem neuen Trend ein Zugeständnis: „Es ist strikt verboten, Spirituosen mitzubringen“, steht jetzt an der Tür.