■ Heute wird der TV-Fälscher Michael Born verurteilt. Er ist der Sündenbock – für die Macher und uns, die Zuschauer
: In der Welt der gefälschten Bilder

Heute werden wir ihn verurteilen, den chronischen Bilderfälscher Michael Born. Im Prozeß konnte man sich davon überzeugen, daß die zuständigen Redakteure eher mehr denn weniger an den Fälschungen beteiligt waren, sei es aus Fahrlässigkeit oder Ignoranz. „Wir sind Opfer, nicht Täter“, das war der Tenor der Aussagen aller betroffenen Redakteure. Günther Jauch ging soweit zu verkünden, er sei noch nie in einem Schneideraum gewesen. Entweder ist dieser Satz eine Lüge, oder er beschreibt realistisch die Arbeitssituation eines Menschen, der gar nicht wissen will, ob er Lügen oder Wahrheiten verkauft.

Andererseits verdeutlichte der Prozeß, in dem nur mit Mühe die rechtsstaatliche Geste gegen die pure Farce verteidigt wurde, daß der Fake medialer Alltag ist. Nachdem man sich des Sündenbocks entledigt hat (dessen Vergehen nicht das Fälschen, sondern das plumpe Fälschen ist), geht in den Redaktionen alles so weiter wie bisher. Wie auch nicht? Gefälschte Bilder, gefälschte Erklärungen der Bilder sind eine notwendige Folge der medialen Überversorgung: Der Bilderhunger des wuchernden Mediums ist größer als er von einer noch so chaotischen Wirklichkeit befriedigt werden kann. Das hat verschiedene, durchaus nachvollziehbare Gründe.

Zum einen ist das Bildangebot zu einem bedeutenden Mittel im Konkurrenzkampf geworden; aufregendere Bilder als der Konkurrenzsender zu haben, bringt Vorteile. Zum anderen hat sich die Bilderpräsentation beschleunigt. Sie beginnen im Frühstücksfernsehen und enden kurz vor dem neuen Medienalltag in den Nachtausgaben der Nachrichtensendungen. Damit vernutzen sich Bilder schneller. Ein immer wiederholtes Bild – und sei es noch so sensationell – trivialisiert sich schneller als die zugehörige Nachricht. Zum dritten haben sich neue Magazine entwickelt, die Unterhaltung und Information miteinander verknüpfen, wie „Brisant“ oder „Stern TV“. Dort steht das Authentische mit dem Unterhaltsamen in Konkurrenz, die Realität mit dem Glamour. Da muß schon etwas los sein, und das heißt: Bilder müssen her, die die Stories illustrieren. Und diese Bilder müssen nicht nur sensationell und emotional ansprechend, sondern auch möglichst exklusiv sein. Die politische Öffentlichkeit verschwindet mehr und mehr, die politische Kultur wird eher vorsichtig denn dramatisch. Weder Helmut Kohl noch seine Widersacher produzieren dramatische Bild-Text-Ereignisse. Und schließlich geben Spartenkanäle wie CNN permanent Bilder ab, die von sich behaupten, Wirklichkeit in Echtzeit abzubilden.

Der Bilderhunger der Fernsehkanäle schafft also einen Markt, der nur durch Angebot und Nachfrage kontrolliert wird. Selbst wenn sie es wollten, könnten die Redaktionen das Gefälschte vom Nicht-Gefälschten nicht selektieren. Was sie nach dem Fall Born indes tun werden, ist perfektere Rückversicherungssysteme auszuarbeiten.

Wenn also das Fernsehen mehr authentische Bilder braucht, als es überhaupt erreichbare Geschehnisse geben kann, muß es mit seinen eigenen Mitteln auf diesen strukturellen Mangel reagieren. Dazu gibt es eine Reihe von teils traditionellen, teils neuen Strategien: Man kann ein Nicht-Ereignis durch das Bild zu einem Ereignis machen, man kann die eigene Bildproduktion, den eigenen Apparat zum Bildinhalt machen, man kann ein unbedeutendes Bild durch Verknüpfung mit einem bedeutenden Bild selbst zu einem scheinbar bedeutenden Bild machen. Und man kann schließlich ein Bild dramatisieren und frech behaupten, es enthalte eine Aussage. Das echte Fälschen von Bildern ist also nur der letzte, vollkommen konsequente Schritt. Daß der entlarvte TV-Fälscher Born keine Spur von Reue zeigt, ist durchaus gerechtfertigt. Er ist gewissermaßen ein Opfer dieses Systems.

Natürlich müssen wir, die ZuschauerInnen, in diesem System zu Mittätern werden: Wenn Ihr nicht so sensationsgeil glotzen würdet, müßten die Macher nicht so viel zusammenfälschen! So wäre eine der möglichen Maßnahmen gegen gefälschte Bilder: weniger Fernsehen. Eine Beschränkung, die das Bild wieder so aufwertet, daß es eher gepflegt als kannibalisiert werden müßte. Völlig utopisch! Die zweite Möglichkeit: Der Zuschauer überholt das Fernsehen in seinem Zynismus und quittiert den Verkauf von Stories als „authentisch“ mit amüsiertem Grinsen. Es ist alles nur Entertainment.

Und doch: Je mehr wir wissen, daß wir in einer Welt der gefälschten Bilder leben, desto paradoxer und neurotischer wird unser Hunger nach der Authentizität im Bild. Reality TV ist z. B. nichts anderes als die Anhäufung von Bildern, die es aufgegeben haben, einen rationalen Sinn zu ergeben, aber dafür mit ihrer extremen Echtheit prahlen können. Die Richter am Koblenzer Landgericht bemühten sich fast liebevoll, dem ehemaligen Stern TV-Redakteur Manfred Hering zu entlocken, daß er um die Aufnahme eines toten Fisches an falscher Stelle gewußt habe. Das ist vielleicht ein Mißverständnis. Daß das Bild etwas Falsches zu belegen hilft, tut nicht so viel zur Sache; die Nahaufnahme des toten Fisches ist es, auf die es ankommt. Die echte Wunde, die Operation am echten Herzen, der echte Autounfall, der echte Kopfschuß. Reality TV handelt indes nicht von echter Arbeit, echtem Verkehr, echten Körpern; der Glaube an das Echte hat sich untrennbar mit dem Katastrophalen, dem Destruktiven, dem Tabubruch verbunden. Das wirklich authentische Bild scheint zugleich das wirklich pornographische Bild. Oder anders gesagt: Wir können einem Bild nur dann glauben, wenn es die Grenze zum Verbotenen berührt. Insofern mag es nicht einmal allzu zynisch sein, zu behaupten, die einzige Möglichkeit der Humanisierung dieser Bilder sei ihre Fälschung.

Daß die Fälschung wohltut, wissen wir aus eigener Erfahrung. Wir selbst als Medienproduzenten kennen uns nur zu gut als Bilderfälscher. Wir fälschen uns in unseren Fotoalben ein glückliches Leben zusammen, wir fälschen die familiäre Katastrophe zur heiteren Episode. Und die authentischen Katastrophen in unserem Leben versuchen wir an „Pleiten, Pech und Pannen“ zu verkaufen.

Und Born? Nein, er ist kein Täter. Seine „Schuld“ besteht eher darin, den Mythos des Authentischen entlarvt zu haben – so wie die Kunstfälscher einst den Mythos des Originals zerstörten. Schade nur, daß Michael Born ein so uninteressanter Mensch ist. Aber das ist eben Fernsehen. Wir werden ihn und seine Geschichte ein wenig fälschen müssen, damit sie wahr wird. Georg Seeßlen