Die Bruchlandung der Jahresendzeitflügelpuppe

Nicht nur zur Weihnachtszeit bevölkern Engel wärmend Gefühle und Sprache, Gemälde und Schaufensterdekorationen einer kalten Welt. Und was wäre das Christfest ohne die Himmelsboten? Glanzlos und flügellahm, meint der katholische Theologe  ■ Wilhelm Tacke

Beginnen wir gleich mit einer forschen Behauptung: Abgesehen von ein paar armen Teufeln sieht jeder Engel gern und sieht jeder ein, daß man sie braucht. Zum Beispiel zu Weihnachten. Was wäre denn – nicht zuletzt für das Gemüt – Weihnachten ohne Engel? Glanzlos und flügellahm. Das Herz verlangt einfach nach ihnen.

Und: Engel sind wieder „in“, sozusagen „öffentlich“ wieder ganz aktuell und in aller Munde, nur nicht als Thema von Predigten auf den Kanzeln unserer Kirchen oder in den Stuben unserer Theologen. Da kommen sie nicht vor oder spielen kaum eine Rolle. Aber sie sind da, die Unsichtbaren, unübersehbar. Sie leben im Volksglauben, sie beleben Weihnachten. Die Welt ist kalt, und Engel bevölkern wärmend Gefühle, Phantasien, Gemälde, Dichtungen, ja sogar Schlager und Aufkleber, Schaufensterdekorationen und die Sprache. In tausenderlei Form spielen die „mit Flügeln ausgestatteten überirdischen Wesen“ (Duden) bis in den banalen Alltag hinein eine unübersehbare Rolle.

„Engel“, sagt Deutschlands Engel-Experte Uwe Wolff, Theologe, Germanist, Pädagoge und Philosoph, seien „eine Art Streetworker oder Sozialarbeiter Gottes.“ Und die „sehen schon von der Kleidung her anders aus als ein Prälat, und auch vom Denken her sind sie ein bißchen lockerer“. „Zu glauben gibt es bei den Engeln viel, zu wissen nichts“, behauptet Michael Fitzen in der FAZ. Und damit hat er recht, denn zumindest gibt es „nichts“ über das hinaus zu „wissen“, was uns die Bibel über die Engel berichtet.

Auf die kindliche Frage: Was macht Gott den ganzen Tag? antwortet der Seelsorger Heinz-Manfred Schulz: „Gott hat dem Menschen etwas zu sagen. Da heißt es: Er schickt seine Engel.“ Denn in biblischen Zeiten habe man sich nicht recht vorstellen können, daß „Gott den Menschen so nahe kommen kann. Deshalb ließ man Boten sprechen“.

Engel sind also modern ausgedrückt: „Mittler mit direktem Zugang zum Chef.“

Doch zurück zu Weihnachten. Weihnachten geht einfach nicht ohne Engel. Und dabei meine ich gar nicht die aus Pappmaché und Glitter, sondern die „real existierenden“, wenn diese Formel hier überhaupt gestattet ist. Für die Bibel sind sie allerdings real existent. Und zwar im Alten wie im Neuen Testament.

Da ist zum Beispiel der Erzengel Gabriel. „Kraft Gottes“ bedeutet sein Name, und der ist somit eine schöne Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Engel. Mit Gabriel fängt Weihnachten sozusagen an. Ihn kennt jeder aus der Szene der Verkündigung. Er ist der Bote Gottes, der zu Maria in die Stube tritt, um ihr die frohe Botschaft zu bringen von der bevorstehenden Geburt des Gottessohnes.

Ein weiterer Engel erscheint „vom Himmel hoch“ den Hirten auf dem Felde und richtet das Ungeahnte aus: Der Heiland, der Messias, der Retter sei geboren und liege in der Krippe. Und dann füllen sich die Sphären mit Engeln, und diese singen Halleluja und verkünden den Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Ein Engel erscheint auch zuerst den drei Königen und dann Joseph im Traum. Den Königen rät er, auf einem anderen Weg nach Hause zurückzukehren, also um Jerusalem wegen Herodes einen weiten Bogen zu machen, und Joseph schickt er mit Maria und dem Kind auf die Flucht nach Ägypten, um alle drei vor König Herodes zu bewahren.

Die Bibel hat noch mehr Geschichten von Engeln auf Lager. Allen gemeinsam ist folgendes: Engel sind allgegenwärtig. Man sieht sie selten, doch man spürt, was sie tun.

„Einen Engel erkennt man immer erst, wenn er vorübergegangen ist“, sagt der jüdische Religionsforscher und -philosoph Martin Buber.

Engel machen sich überall dort bemerkbar, wo der Mensch seine Vorstellungskraft gebraucht, wo der Verstand allein nicht weiterhilft. Aber sie müssen nicht unbedingt so aussehen, wie wir es gewohnt sind. Was uns in den Museumsshops und auf Postkarten entgegenfliegt, sind Wunschprojektionen bestimmter Stilepochen. Sie sagen mehr über die Träume der Menschen aus als über die Natur des Himmlischen. Engel, das ist ein Hilfswort für Erlebnisse und Erfahrungen, die nicht rational zu erklären sind. Der Engel ist die Personifikation jener unfaßbaren Mächte, die der Mensch zu allen Zeiten anders erlebt hat.

Nachdenken über Engel heißt also eigentlich: nachdenken über uns Menschen selbst, über die Bilder, die wir uns von der „anderen Seite“ machen.

Die Engeldarstellungen der Kunst sind keine Geschöpfe Gottes, sondern idealisierte Ebenbilder unserer irdischen Gefühlswelt. Sie beschäftigen die Phantasie, sind Stoff der Sehnsucht und Berechnung. Schlichtes, Hochgeistiges, Ermahnendes, Unterhaltendes zehren von ihrem Image.

„Fahre nicht schneller, als dein Schutzengel fliegen kann“, heißt es in der Werbung.

Vielfältig leben die Engel in unserer Sprache fort. Häufig sind sie nur oberflächliche Metaphern für „Schwein gehabt“ oder „Glück gehabt“, etwa in dem Stoßseufzer: „Da habe ich einen Schutzengel gehabt“; für „Retter in der Not“, wenn vom „rettenden Engel“ die Rede ist; für „geduldiges Auf-jemanden- Einreden“, wenn man formuliert: „Man redet mit Engelszungen“; und wenn ein Gespräch rätselhaft-plötzlich verstummt, sagt man: „ Es fliegt ein Engel durchs Zimmer.“

Engel sind ein Inbegriff des Rettenden, Bewahrenden, Verkündenden, des Stimmungsvollen, Erhabenen, Edlen und Schönen. Und sie sind – auch biblisch – Wanderer zwischen Himmel und Erde.

Auch heute glauben noch viele Menschen unterschiedlicher Klugheitsgrade an sie, ob sie es zugeben oder für sich behalten. Einer jüngsten Umfrage zufolge glaubt jeder dritte Deutsche an Engel. Das hat seinen tiefsten Grund wohl zuallererst darin, daß viele Menschen auch heute noch davon überzeugt sind: Die Welt ist mehr, als wir wahrnehmen. Denn jeder Mensch kennt in seinem Innersten die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt.

Und er sucht in seinem Leben nach Spuren dieser Welt. Viele sprechen von „Gott“, wenn sie diese Welt meinen. Andere sprechen nicht nur von Gott, sondern auch von seinen Boten, den Engeln, und zwar dann, wenn sie versuchen, Gottes Gegenwart wahrzunehmen. Und Bote zu sein ist das Wesen des Engels: Das deutsche Wort läßt nämlich seine Abstammung vom Griechischen „Angelos“ oder dem Lateinischen „angelus“ noch ahnen: Und beides heißt Bote. Da diese Boten an sich körperlose Wesen sind, bevölkern sie oftmals die Träume der biblischen Gestalten. Sie können sich aber auch der Menschengestalt bedienen. So mag es nicht verwundern, daß das hebräische Wort für Bote, Malak, auch für die Propheten, die Beauftragten Gottes im Alten Testament, gebraucht wird.

Laut Bibel kommt der Engel aus der unmittelbaren Nähe Gottes. Und genau deshalb empfinden die Menschen Engelsbegegnungen oft als Gottesbegegnungen, die oft auch erschreckend sind, eine Begegnung mit dem unnahbaren, verborgenen, dunklen, auch strafenden Gott. Und die Bibel ist voll von Engeln. Überlegenen Geschöpfen im Hintergrund des Seins. Die Boten Gottes in der Hl. Schrift sind von Geheimnis umhüllt und niemals niedlich, ihr Erscheinen erschreckt stets so sehr, daß sie mahnen: „Fürchtet euch nicht!“

Engel erscheinen in Träumen und am Tage. Viele Heilige fast aller Religionen bezeugen das. Sterbende und klinisch Tote berichten von Begegnungen mit tröstenden, stärkenden und wunderbar geleitenden Lichtwesen.

Es lassen sich Bücher füllen mit „englischen“ Erlebnissen, Berichten von Menschen – religiöse und profane –, die glauben, überwirklichen Beistand erfahren zu haben. „Engel“ begegnen einem auf der Straße, und zwar nicht nur die gelben Engel, und im Krankenhaus. Sie begegnen einem im Schaufenster und in der Reklame.

Engel sind also keineswegs eine Erfindung des deutschen Einzelhandelsverbandes. Der Versuch, sie endgültig zu profanisieren und sie ihrer himmlischen Aura zu berauben, mißlang erst jüngst: Die „Jahres-endzeitflügelpuppe“ der ehemaligen DDR machte nämlich eine geradezu grandiose Bruchlandung. Das hätte man mit ein wenig gesundem Menschenverstand, beziehungsweise etwas wirtschaftlichem Sachverstand, voraussehen können, denn im Erzgebirge lebte ja geradezu ein ganzer Industriezweig von den Engeln. Mit einem Wort: Engel sind nicht totzukriegen.

Laut Theologie sind Engel überirdische Wesen, die bis ins Mittelalter hinein nicht nach ihrem Wesen, sondern nach ihrem Dienst eingeordnet wurden. Sie stehen entweder im Dienst Gottes oder des Teufels. Im Neuen Testament fungieren Engel als „himmlische Boten an die Menschen“. Sie erscheinen im Traum, aber auch im Wachzustand, und zwar in Gestalt von Männern in leuchtend weißen Kleidern. Und sie sind Geister. Sie bilden die Heerscharen Gottes oder seinen Hofstaat, dienen Christus, und Kinder haben im Himmel einen Engel. Wenigstens nach dem Volksglauben hat jeder Mensch seinen ihm gleichen Engel, der ihn schützt und selbst im Tod begleitet.

Die Menschen in der Bibel wußten: Engel kommen, besuchen uns. Sie begegnen im Irdischen. Sie lassen nicht allein. Die Menschen der Bibel rechneten mit den Engeln, so oder weil sie mit Gott rechneten. Nicht die Gestalt ist dabei wichtig: Das Strahlen der Gottesherrlichkeit kann um sie sein. Sie können hell gekleidet sein. Weiter werden sie nicht beschrieben. Man kann Engel auch nicht verehren oder anbeten. Was sie wichtig macht, ist ihre Botschaft: Sie kommen aus Gottes Welt. Ganz unvermittelt. Sie spiegeln Gott. Sie sprechen mit seiner Stimme. Sie sind Gottes leibhaftig nahe Hilfe. Sie weisen Wege, sie sagen Zukunft an. Sie sind Wächter und Beschützer. Ihr Dienst ist: Werkzeug Gottes zu sein. Gott und seine Engel sind eins.

In der Kunst ist der Engel nicht von Anfang an fertig da. Seine bekannten Flügel erhält er beispielsweise erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts. Damals wird erstmals der Engel neben dem Evangelisten Matthäus mit Flügeln abgebildet. Das mag daran liegen, daß es bereits in der Antike geflügelte Wesen gab, nämlich die Genien, von denen man sich zumindest zeitlich ein wenig absetzen wollte. Flügel sind das beste Mittel, die Boten als „von oben“ kommend zu kennzeichnen. In den Flügeln der Engel ist die Sehnsucht der Menschen versteckt, ganz anders zu sein, frei, leicht, schwebend, eben mit der Fähigkeit zu fliegen, beziehungsweise „beflügelt“. Und wer möchte das nicht, abheben vom Boden, frei sich bewegen über alles hinweg, wie ein Vogel. „O hätte ich Flügel der Morgenröte“, heißt es in Psalm 139.

Die Flügel sind aber auch ein Sinnbild für Schutz – der Schutzengel nimmt diesen Sinn auf. Schutzengelbilder werden seit dem 15. Jahrhundert beliebt.

Vom 4. Jahrhundert an bekommen die Engel allgemein Flügel und Nimbus (= Heiligenschein), sie sind zunächst Jünglinge und Männer. Sie tragen Tunika und Pallium (= Mantel), im Haar ein Stirnband. Die Hände sind verhüllt, wenn sie Kronen und anderes mehr darbringen. Manche haben einen Botenstab, wie beispielsweise der Erzengel Gabriel auf der Armen-Bibel-Darstellung im Bremer Bleikeller. Kinder-Engel tauchen vereinzelt bereits im 12. Jahrhundert auf. Sie werden zahlreicher, und bald finden wir auch die geflügelten Engelköpfe, etwa auf Andachtsbildern. In der Renaissance wird der Kinder-Engel dann zum verspielten und verniedlichten Putto, der kaum noch etwas von der Ernsthaftigkeit des Engels-Berufes in sich hat.

Bereits in der Frührenaissance taucht erstmals auch der Mädchen-Engel auf. Pikant daran mag sein, daß der erste Maler eines weiblichen Engels ausgerechnet ein dominikanischer Mönch ist, nämlich der Florentiner Fra Angelico (1400-1455). Da die Liturgie den Rang der Vorwegnahme des himmlischen Hochzeitsmahles hat, tragen die Engel im 13. Jahrhundert als aktiv Mitwirkende Diakonen- oder Priestergewänder. In der Kunst der Barockzeit wirken die Engel dann stark verweltlicht und teilweise nur noch dekorativ.

Nur weil Engel immer schon und offenbar immer noch Menschen beflügeln, weil sie mehr sind als Floskeln, werden sie immer wieder und immer noch besungen und gemalt, gemeißelt und beschrieben, gebastelt und gefaltet, gefilmt und ausgeschnitten ...

Wilhelm Tacke ist Sprecher der katholischen Kirche in Bremen.