Die wunderliche Weihnacht der Gerda T.

■ Eine Stimme kurz vor Weihnachten und plötzlich wußte Gerda Thöns, wie ihr Leben schöner und sinnvoller werden könnte

Seit Tagen hatte man Gerda Thöns nicht mehr ohne Schal gesehen. Wir sprechen hier nicht von einem der Jahreszeit entsprechenden wolligen Halswärmer, sondern von einem schrecklich apricotfarbenen Gebinde aus Naturseide, wie man es in jenen duftlampenkontaminierten Boutiquen findet, die meist ein „Lädchen“ im Titel tragen, und in denen man unter Umständen von irgendwelchen Knäckebrotgesichtern mit einem unverschämt vertraulichen „Möchtest Du auch'n Tee?“ begrüßt wird. Auch Gerda Thöns mußte diese Frage hören, als sie in dem Tücherhaufen herumfingerte. Früher hätte sie den Blick auf die Fußspitzen geklebt und mit roten Öhrchen dankend abgelehnt. Doch diesmal hörte sie sich etwas furchtbar Unanständiges sagen, für das das Wort „Fotze“ noch eine allzu euphemistische Übersetzung wäre. Doch mit der Wortwahl nicht genug. Gerda Thöns artikulierte sich zudem in einer Schrillheit und Lautstärke, die nicht mehr menschlich zu nennen war. Natürlich wurde es totenstill. Oder wenigstens fast. Was im Hintergrund noch klapperte, war der Löffel im Teebecher zwischen den zitternden Händen der Verkäuferin. Das Gesicht der Angekläfften fiel in eine Lächelstarre, und sie hoffte, daß niemand von der übrigen Kundschaft die Todesangst bemerkte, die in ihren Augen flackerte. Gerda beachtete weder die Fratze noch die Augenpanik, sie nahm sich einfach den obersten Schal, wickelte ihn so um ihren kurzen Hals, daß er das gigantische Muttermal mit den langen, schwarzen Haaren rechts neben ihrem Kehlkopf sicher wie einen verräterischen Knutschfleck verdeckte. Niemand konnte mehr ahnen, daß dieser entartete Hautlappen, der auch an einem Blauwal klobig ausgesehen hätte, ein schreckliches Eigenleben hatte, von dem zu sprechen noch Generationen später nur im respektvollen wie furchtsamen Flüsterton möglich sein wird.

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Gerda Thöns hatte sich verändert. Aus der kinderlosen Deutschlehrerin war eine tickende Zeitbombe geworden. Fast zehn Jahre hatte die nunmehr 42jährige ihre krebskranke Mutter bis zur letzten Stunde aufopfernd gepflegt und dafür am Ende nicht ein Wort des Dankes gehört, sondern nur ein für eine Sterbende beachtlich zickiges „Kind, wehe du legst mich neben Liesel“, womit die Sargplazierung auf dem Gemeindefriedhof gemeint war. Später schikanierte das Schicksal Gerda erneut, diesmal in Form eines Müllwagens, der ihren Gatten eines jungen Morgens unverhofft überrollte, als dieser gerade dabei war, den verdauten Kasten Pils sowie eine Flasche schottischen Hochlandwhiskeys über die Audis der Nachbarschaft zu sprengen. Friedhelm war fortan nicht mehr Chefcontroller eines der größten deutschen Damenschuhherstellers. Er wurde Invalide und jeden Tag fett und fetter. Und Gerda war sich nicht sicher, ob sie seine Demütigungen wirklich seinem nun defekten Gehirn zu verdanken hatte oder seinem über die Jahre mit Ekel gemästeten inneren Schweinehund.

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Am 19. Dezember jedenfalls ereignete sich Merkwürdiges. Gerda verrichtete soeben die Morgentoilette, als sie eine Stimme vernahm. Die Erschrockene schaute überall nach, doch eine logische Geräuschquelle konnte sie nicht finden. So nahm sie ihre Reinigungsarbeiten wieder auf und begutachtete das Ergebnis im Spiegel. Als ihr Blick auf das Muttermal am Hals fiel, eine angeborene Pigmentsstörumg, die ihr seit Kindergartenzeiten Spitznamen wie „Äffchen“, „Werwolf“ oder „Akupatz“ eingebracht hatte, mußte Gerda fassungslos feststellen, daß das haarige Hautstück über Nacht auf die Größe eines Handschuhs gewuchert war. Obendrein hatten sich in seinem Zentrum merkwürdige, schon obszön anmutende Wülste gebildet, die sich nicht nur bewegten, sondern auch mit imposanten Zähnen bestückt waren. In dem Augenblick seiner Entdeckung entfuhr diesem grotesken Muttermalmund ein Kreischen, das wie der Schrei eines verirrten Vogels klang. Als sich beide etwas aneinander gewöhnt hatten, äußerte sich das Hautgewächs klar und seltsam zärtlich: „Denk endlich mal an dich, Gerda.“. Und das klang nicht wie ein wohlmeinender Rat, sondern wie ein Befehl, der keinen Widerspruch duldet. Der häßliche Flecken wiederholte sein Kommando immer wieder, bis er in einen Singsang fiel, der die Erkennungsmelodie einer bekannten Waschmittelwerbung annahm, die, einmal gehört, auch keine großzügige Lobotomie aus einer menschlichen Hirnrinde wieder herauskriegen würde. Gerda ekelte sich nicht länger vor ihrem mutierten Spiegelbild, sondern betrachtete sich zum ersten Mal liebevoll, gar zart errötet, ob der unverhofften Anteilnahme an ihrer trüben Existenz. Trotzdem nahm sie sich fest vor , die letzten Minuten für eine Sinnestäuschung zu halten. Sie zog sich an und machte sich einen starken Kaffee. Dann fuhr sie „Denk endlich mal an dich, Gerda“ summend zwecks Weihnachtseinkäufen in die Stadt. Als sie nach minutenlangem Suchen keinen Parkplatz fand, war Gerdas Laune schon wieder hin und sie tat etwas, was sie normalerweise nicht übers Herz bringen würde. Sie stellte ihren Golf auf einem Behindertenparkplatz direkt vor Karstadt ab. Als sie mißbilligende Passantenblicke auf sich spürte, präsentierte sie eine kleine Kür an spastischen Zuckungen, ließ ihren Speichel nach Herzenslust Blasen bilden und hielt dann solange die Luft an, bis ihr Kopf bedrohlich anlief, die Augäpfel ein Stückchen vortraten und auch der letzte Gaffer seinen Blick von der Simulantin nahm. Lange hatte sich Gerda nicht mehr so wohl gefühlt. Und sie spürte, daß dieser seltene Hochgenuß noch ausbaufähig war.

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In der Spielzeugabteilung des Kaufhauses weinte unbeachtet ein etwa vierjähriges Mädchen. Vermutlich hatte es seine Eltern im Gewühl verloren. Gerda näherte sich dem verrotzten Häufchen mit tantenhafter Freundlichkeit. Doch das Wimmern schraubte sich zu grausamem Kreischen hoch und kam auch nicht mehr herunter. Da knallte Gerda der Kleinen eine. Den Folgeschrei übertönte Frau Thöns mit einem Lachen, das Godzilla gut zu Gesicht gestanden hätte, wenn die Riesenechse nur jemals etwas zu lachen gehabt hätte, und verschwand.

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Auf dem Weg zur eingangs erwähnten Boutique entdeckte Gerda ein anderes schönes Hobby. Vor Geschäften angebundene Hunn nahm sie kurzerhand in ihre Obhut, um die kältezitternden Geschöpfe dann an den hinteren Stoßstangen haltender Busse festzuzurren. Sie freute sich ein Loch in den Bauch, wenn all die Pudel und Kleinstterrier von den schwarzen Abgasböen in die Luft gedrückt wurden und anschließend wie „Just Married“- Konserven über das Kopfsteinpflaster geschrubbelt wurden. Gerda Thöns war bei diesem Anblick so leicht ums Herz, daß sie die Einflüsterungen ihres Muttermals laut vor sich her gröhlte.

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So vergingen die Dezembertage für Gerda Thöns mit ungeahnten Wonnen. Täglich zog sie nun los und verhaute Schulkinder. Manchmal stand sie sogar nachts noch einmal auf, um Obdachlos zu überfahren. Das sprechende Muttermal war ihr dabei eine große Hilfe. Beim Autofahren entwickelte es sich mit einem „rechts ist frei“ oder einem herzhaften „jetzt fahr ihn zu Klump“ zum perfekten Beifahrer. Fühlte Gerda sich unbeobachtet, schob sie die Hand unter ihren Schal und kraulte ihren kleinen pelzigen Freund, lauschte gerührt seinen Verheißungen und ließ ihn dazu zärtlich an ihren Fingern knabbern.

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Einen Tag vor Heiligabend fiel Gerda eine Anzeige der Welthungerhilfe mit einem Spendenaufruf in die Hände, und das Muttermal krähte ausgelassen: „Morgen, Kinder, wird's was geben.“ Gerda wußte, was sie zu tun hatte. Was für sie gut und angenehm war, sollte den Bedürftigen dieser Welt ebenfalls Freude bereiten. Sie kaufte rasch ein großes Sortiment an Gefrierboxen, farblich passende Tiefkühletiketten und eine beeindruckende Auswahl an Messern. Und als ihr Mann sie abends zwischen asthmatischen Hustenschüben fragte, ob sie auch an die Füllung für die Weihnachtsgans und an seine Heidesandplätzchen gedacht habe, küßte sie ihn übermütig auf die Stirn und hauchte ihm ein butterweiches „Morgen, Kinder...“ dazu ins Ohr.

Das Fest der Liebe kam. Der Tisch war gedeckt. Goldbraun lag die Gans in seiner Mitte flottiert von kerzentragenden Keramikengeln. Ihr Mann machte sich derweil an die Arbeit des Hinsetzens. Das Gelee seiner Wangen erbebte, das gewaltige Hinterteil senkte sich behutsam. Dann, in letzter Minute, lieferte er seine ganze Fülle ungebremst dem Korbsessel aus, der aus schierer Überlebensangst in eine Serie von Knackgeräuschen ausbrach. Wie immer rammte er seine Zähne in das Fleisch, als lebte das zubereitete Tier noch und müsse mit jedem Biß erneut erlegt werden. Und wie immer redete er kein Wort mit ihr, abgesehen von dem Hinweis, daß Salz und Pfeffer fehlten.

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Als dem Ungeschickten die Gabel auf den Boden fiel und er sich abrackerte, sie wieder aufzuheben, stellte sich Gerda hinter ihn und stach zu. Bis zum Schaft stieß sie das Messer in seinen gebeugten Rücken und wunderte sich, wie leicht das ging und wie wenig Lärm das machte. Friedhelm wollte schreien, doch Gerda schnitt ihm im rechten Moment die Kehle durch, so daß es beim blutigen Blubbern blieb. Das Muttermal jubelte lauthals und fletschte unterstützend die Zähne. Gerda krempelte sich die Ärmel hoch. Die ganze Nacht zerteilte sie den Gatten. Das war dann doch eine Menge Arbeit und machte ganz schön viel Dreck. Und als sie endlich den Großteil auf die Gefrierdosen verteilt hatte, alles akkurat beschriftet und postgerecht verpackt hatte, sortierte sie sich noch ein Stück Lende für die Zeit zwischen den Jahren heraus. In jedes Paket an die Welthungerhilfe legte sie noch ein Rezept bei, das, so hoffte sie, auf die empfindlichen Mägen der Hungerleidenden Rücksicht nahm und vor allem die Gewürze zum Abschmecken empfahl, von denen Gerda annahm, daß es sie in allen Supermärkten der Welt gäbe.

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Es war schon spät, als Gerda alles wieder aufgeräumt hatte. Sie wollte ihren pelzigen Glücksbringer zu einem weihnachtlichen Kanon ermuntern. Doch der blieb stumm. Verdutzt tastete Gerda Thöns ihren verdächtig glatten Hals ab. Keine Zähne begrüßten sie. Keine Haare verfingen sich in ihrem Ehering. Dort, wo sich einst das seltsame Stück eingenistet hatte, fand sich nur ein Gefrierboxetikett, auf dem stand: „War'ne prima Zeit, aber andere brauchen mich jetzt dringender.“.Das sah Gerda ein und schüttelte lächelnd den Kopf. Birgit Glombitza