Neue Regeln Von Thomas Gsella

Gern küsse ich das neue Jahr mit dem Geständnis wach, daß ich Indien falsch eingeschätzt habe. Aber wen interessiert das? Ich bin kein diplomierter Asien-Experte. Hingeflogen bin ich niemals; nur aus Fernsehen und Heftchen glaubte ich zu wissen, daß Indien als solches auf sechs Säulen ruht: Kastenwesen, Hinduismus und Buddhismus, Frauen mit einem roten Kreisel auf der Stirn, heitere Gelassenheit und Yoga. Die Männer tragen Latschen, konstrastieren ihre nachtschwarzen Pupillen mit Dash-weißen Oberhemden, ziehen oder schieben Karren und sind dünn und freundlich. In den Straßen und vieltausend Gäßchen hängt ein feiner Dampf, in dem geheimnisvolle Düfte und pastellene Gewänder kupferbrauner Frauen zu einer coolen Sinfonie der Sinnlichkeit verschwimmen. Tiger gibt es, doch bilden Schikanen die Ausnahme. Kürzlich wurde mal ein Kind von einem Tiger wegstibitzt und kam aber nach drei, vier Stunden heile wieder angelaufen. Ärzte fanden weder Verletzungen noch Spuren eines Psychotraumas. Der Tiger hatte wohl Gewissensbisse gekriegt. So human sind indische Großkatzen. Seine Krallen in die ungeschriebenen Gesetze schönen Miteinanders schlägt aber der Inder. Das muß ich leider so sagen. Ins vor Kummer eh bettwälzerische Weltgedächtnis brannten sich vor einiger Zeit zehn dutzend Yoga-Jünger ein, die, kaum waren News vom nahen Absturz eines Jumbos in ihr Dorf gedrungen, hineilten und die Leichen und Verletzten plünderten, als gelte es, die eigene Seele kurz mal vollständig zu schwärzen. Erst kommt das Fressen, sagt Brecht. Aber so eng war es ja gar nicht! Stimmen die Berichte, erschienen die Plünderer mit allerlei daheim gefüllten Picknickkörben, entnahmen den Opfern Geld und Schmuck und fraßen dann im Rahmen eines spontan angesetzten Happenings ratzfatz die Körbe leer. Auf Charakter und ein großes Herz läßt das nicht schließen.

„Menschen, die aus 15.000 Meter Höhe auf die Erde plumpsen, haben ungewöhnliche Minuten hinter sich und ein unbedingtes Recht auf Ruhe.“ Das war Paragraph 1, und in seinen Geltungsbereich fallen gleichfalls alle abgestürzten Geschäfte. Man lasse sie in Ruhe! Zum Glück sind sie ja selten. Viele Supermärkte, Kauf- und Warenhäuser sind nicht abgestürzt, und andere Benimmvorschriften schieben sich ins Bild. Paragraph 2: „Es darf geplündert und geklaut werden. Das Nähere regeln die Absätze a bis f.

a) Wer einen Artikel wegträgt, den er zum eigenen Verzehr oder Genuß benötigt, geht straffrei aus.

b) Wer aber klaut, um anderen und sich zu imponieren, hat seine Biographie noch nicht gefunden, ist vermindert schuldfähig und geht auch straffrei aus.

c) Wer Waren klaut, die von der Kassiererin bereits in den Computer eingetippt und im Klauensfall von ihr zu zahlen sind, der soll gevierteilt werden.

d) Wer aber nach 18.30 Uhr klaut, der soll gehängt, erschossen und gevierteilt werden, und seine Asche kommt in einen Gulli.

3) Die neuen Ladenöffnungszeiten sind nämlich vom Teufel.

f) Wer nach 18.30 Uhr ein Geschäft betritt, um etwas zu kaufen, soll ebenfalls gehängt, erschossen und gevierteilt werden, denn er ist ein rücksichtsloser Saubatzen, Quäler der Verkäuferinnen und Anhänger der FDP.“