Das Medium, die Message etc.
: Die Vision des Bill Gates

■ Information aus der „high-speed“-Zone: Der Microsoft-Imperator vergibt seine Ratschläge an „Führungskräfte der Wirtschaft“ nur mehr per Satellitenfernsehen

Essen am 19.12.96: Einen „Überblick über die Microsoft Strategie direkt von Bill Gates zu bekommen“, phantastisch. Ich sollte einen Mann aus der Nähe sehen, der 1994 „mehr als 100 Millionen Dollar“ – nein, nicht verdient, sondern an Steuern gezahlt hat. Wenn die Redensart „you're looking like a million dollars“ irgendeinen Sinn macht, dann mußte diesen Mann eine golden schimmernde Aura umgeben.

Eingeladen hatte Microsoft zu „Odin Training & Consulting“ in Essen, einem Solution Provider. Schon „130 Führungskräfte der Wirtschaft“ hatten zu dieser exklusiven Veranstaltung fest zugesagt. Gates! Milliarden! Ich wählte Tiefdunkelblau mit Nadelstreifen, zögerte einen Moment, ob ich sein Buch „The Road Ahead“ für ein Autogramm einstecken sollte, und machte mich auf den Weg. Godfather Odin residiert nicht gerade so, als könnten dort Hubschrauber landen oder stretch limos parken. Als es durch einen finsteren Torbogen in einen pfützenreichen Hinterhof und über eine schmale Metallwendeltreppe in ein älteres storage building geht, zweifeln wir, ob der „prominente Gast bei Odin in Essen“ leibhaftig da sein würde. Eine Dame mit der wunderbaren Funktion einer „Key Account Managerin“ korrigiert meine Naivität: Tatsächlich bedeutet „direkt“ und „live“ naturgemäß nichts anderes als „via Satellit“. Der Herr der Medien tritt nur vermittelt auf.

Dennoch sollte dieser Event eine Premiere sein. Gates live war das „Pilotprojekt“ einer Zusammenarbeit zwischen „Pro 7 Digitale Medien“ und „Microsoft Business TV“. Gates sprach „in Großprojektion“ zu uns über das Inter- und das Intranet, über den kommenden Netz-PC, die sich selbst beschleunigende Evolution der Technologie und den steten Ausbau des „Information-Super- Highways“. Wohl zwei Dinge klangen neu: Gates setzt auf online-software-support; der User wird via Netz automatisch mit Updates, Tools und Applications versorgt. Die control administration unterwirft den Klienten einer permanenten und umfassenden Überwachung. Natürlich wird dies damit begründet, daß man die Bedürfnisse des Users nur so genügend kennenlernt, um sie zu befriedigen. Und Gates prophezeit die Teilung der Welt in low- speed- und high-speed-Zonen. Die Schätze des Internets sollen also zwar weiterhin für alle zugänglich sein, bei manchen dauert alles nur länger. Das Interessanteste, das Gates nicht gesagt hat, ist, daß es „Netscape“ gibt und Microsoft weit davon entfernt ist, mit seinem Browser einen De- facto-Standard wie DOS oder WINDOWS zu setzen. Daß er vor großen vergitterten Fenstern aus poliertem Stahl gesprochen hat, könnte ein Symbol dieses Schweigens sein.

Auf dem bekannten Foto von Annie Leibowitz sieht Bill (alle nennen ihn Bill, weder Mr. Gates noch Sir) aus wie ein schüchterner Collegejunge, der hilflos durch sein Kassengestell starrt und die Hände verlegen in den Hosentaschen vergräbt. Jetzt tritt Gates souverän auf, läßt sich bejubeln, unterstreicht mit sicheren Gesten seine locker vorgetragenen Statements. Sein Gesicht hat alle Pausbäckigkeit verloren und wirkt energischer, die neue Brille vollendet das neue Image: Bill ist smart geworden. Daß der Multi- Milliardär für Microsoft das Internet zurückerobert, wirkt nicht unwahrscheinlich.

Am Ende wollen wir ein Rechercheergebnis nicht verschweigen. Auf der Homepage von Pro 7 (www.pro-sieben.de/ intern) erfahren wir, daß die sogenannte Live-Schaltung eine Aufzeichnung von einer „Veranstaltung Ende Oktober in San José“ gewesen ist. Die exklusive Vision des Bill Gates war eine stinknormale Television. Oder war der smarte Gates gar eine Computeranimation. Von den Gästen bei Odin hätte auch das niemand bemerkt. Niels Werber