Die Mär vom Feindbild Islam

Vorurteile gegenüber muslimischen Gesellschaften machen diese nicht zum politischen Gegner. Kohlhammer: Der Westen braucht kein Feindbild  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Häßliches passierte vor wenigen Wochen in Fürstenwalde. Jugendliche rissen (muslimischen) libanesischen Hausfrauen im Vorübergehen die Kopftücher herunter. So also verschafft sich das „Feindbild Islam“ seinen niederträchtigen Ausdruck?

Tatsächlich mögen diese Kerle keine Muslime. Allerdings, das macht die Sache nicht besser, mögen sie auch keine Juden, keine Polen, keine Schwulen, keine Linken. Für ihre Xenophobie sind die Fürstenwalder Neonazis auf den Islam ebensowenig angewiesen wie das einig Volks, das sich einst in Rostock und Hoyerswerda zum Aufstand versammelte und gegen (christliche) rumänische Asylsuchende, gegen (katholische) Mosambikaner und gegen (buddhistische) Vietnamesen zündelte.

Wehret den Anfangen! – 80 Seiten umfaßt deshalb eine kürzlich von der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen herausgegebenen Broschüre mit Leseempfehlungen zum Thema Islam. Rund 200 Titel von 150 Autoren, fast ausnahmslos in den letzten fünf Jahren herausgegeben, werden vorgestellt: Handbücher, Lexika, Sachbücher, Literatur, Unterrichtshilfen. Angesichts der Flut der jährlichen Neuerscheinungen zum Thema Islam eine nützliche Orientierungshilfe.

Erklärtes Ziel der Leseanleitung ist es, dem „Feindbild Islam“ entgegenzuwirken, weshalb Bundespräsident Herzog im Vorwort mahnt: „Die islamische Welt ist kein monolithischer und erst recht kein fundamentalistischer Block. In Wahrheit ist das, was wir landläufig als Fundamentalismus bezeichnen, nichts anderes als die politische Instrumentalisierung religiöser Gefühle.“

Diese kleine Anstrengung der Bundesregierung in Sachen Aufklärung wird die „Feindbild Islam“-Mahner nicht allzu sehr beeindrucken. Sie werden weiterhin behaupten, der Westen kultiviere mit dem Verschwinden des kommunistischen Blocks das Feindbild Islam. Wären also die Fragen zu beantworten: Wer konstruiert das Feindbild Islam? Wie wird das Feindbild Islam zur ideologischen Homogenisierung und zur Mobilisierung für das eigene westliche System genutzt?

Bereits vor gut einem Jahr ist Siegfried Kohlhammer mit seinem in der Zeitschrift Merkur erschienenen Essay angetreten, just diese Fragen zu beantworten. Nun liegen seine überarbeiteten und erweiterten Überlegungen, die darüber hinaus durch einen Essay über Edward Saids 1978 erschienenem Standardwerk „Orientalismus“ ergänzt wurden, in Form eines Buches vor: „Die Feinde und die Freunde des Islam“.

Kohlhammer durchforstet die Literatur nach Propagandisten des Feindbildes. Ergebnis: An der antiislamischen Front tummeln sich ein paar Einzelgänger – vor allem und immer wieder Konzelmann, Scholl-Latour umd Mahmoody. Personell und intellektuell besser bestückt ist dagegen die Gegenseite. Quer durch alle politischen Lager und Feuilletons wird der Zeigefinger erhoben. Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt warnt ebenso eindringlich vor der Gefahr eines „Feindbildes Islam“ wie der außenpolitische Sprecher der SPD, Norbert Gansel.

Kohlhammers Fazit: In Deutschland deutet wenig bis nichts auf ein aktuelles Feindbild Islam hin. Mit einem tief im kollektiven (Unter-)Bewußtsein verankerten und historisch, so wird behauptet, bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichenden Feindbild Islam wäre die Aufnahme von mehr als 320.000 überwiegend muslimischen Flüchtlingen aus Bosnien ebensowenig möglich gewesen wie die der muslimischen Flüchtlinge aus dem Libanon, Afghanistan, der Türkei, Pakistan, dem Irak und dem Iran. Auch die Errichtung von mittlerweile über 2.200 Gebetsstätten und Moscheen im Lande hätten sich unter dieser Voraussetzung nicht so unproblematisch vollzogen, wie das – trotz der einen oder anderen Provinzposse um die Höhe des Minaretts und der Lautstärke des Muezzinrufes – der Fall war. All dies schließt natürlich nicht aus, daß es Vorurteile, Stereotypen und Klischees über den Islam gibt. Sie sind „intellektueller Normalzustand“. Kohlhammer bezweifelt, daß der Westen heute überhaupt noch ein Feindbild braucht. Weder die wirtschaftliche (siehe „kritischer Dialog“ der Bundesregierung mit dem Iran) noch die politische Interessenlage mache ein Feindbild Islam opportun. Anders als die Mehrheit der islamischen Staaten, die antiwestliche Ressentiments als Bindemittel und zur Herrschaftssicherung benötigten, könnten, so Kohlhammer, westliche Gesellschaften inzwischen auf ein Feindbild verzichten. Denn sie sind seit der Säkularisation amoralisch, das heißt, von Interessen bestimmt und nicht von Tugenden, Glauben und Ehre. Das versetzt den Westen, im Gegensatz zu fast allen islamischen Ländern, in die Lage, allen Religionen Freiheit zu gewähren. Im gleichen Atemzug betont Kohlhammer, daß Xenophobie und Rassismus dabei sehr reale Probleme in den westlichen Ländern bleiben, diese allerdings in der Regel nicht religiös oder antiislamisch motiviert sind.

Eine säkularistische Zivilgesellschaft, so das Fazit, zieht aus einem Feindbild Islam keinerlei Nutzen. Sie muß, will sie sich nicht selbst aufgeben oder bürgerkriegsähnliche Zustände heraufbeschwören, an einer Integration der Muslime interessiert sein. Um diese integrationistischen Ziele zu erreichen, ziehen die westlichen Länder die Appeasement-Strategie einer Konfrontation vor.

Dieser Toleranzbegriff ist um Lichtjahre von der Menschenrechtssituation in den 46 islamischen Staaten entfernt. Ethnische und religiöse Minderheiten werden nach Analysen von amnesty international in fast allen islamischen Ländern diskriminiert und verfolgt.

Kohlhammer wirft den „Feindbild Islam“-Mahnern vor, mit ihrer Rede vom Feindbild vor allem eines zu bezwecken: die westliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen von vornherein ins Unrecht zu setzen. Angesichts der vorherrschenden Intoleranz in der islamischen Welt stellt Kohlhammer die durchaus ernst gemeinte Frage, „ob der real existierende Islam nicht eigentlich ein Feind des Westens ist und in diesem Sinne ein Feindbild Islam realistisch und wünschenswert wäre“. Schließlich gebe es nicht nur „Feindbilder“, sondern auch wirkliche Feinde der Demokratie und Freiheit, gegen die man sich zur Wehr setzen muß.

Zwei weitere Thesen Kohlhammers werden die Kritiker auf den Plan rufen. Er behauptet erstens, daß sich in der islamischen Welt in weiten Teilen nie ein Denken hat durchsetzen können, das allen Menschen unveräußerliche Rechte zusprach. Die zweite These wird nicht zuletzt all jene erzürnen, die in der gegenwärtigen Diskussion auf die Toleranz im islamisch geprägten und beherrschten al Andalus verweisen, und in dieser frühmittelalterlichen Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen ein Modell für die Gegenwart sehen: „Die in den islamischen Ländern geübte Toleranz galt nie prinzipiell gleichberechtigten anderen, sondern gewährte bestimmten Gruppen ein Existenzrecht in einem inferioren Status.“

Zurück nach Deutschland. In 17 Tagen, am 10. Januar, beginnt für die mehr als zwei Millionen Muslime der Fastenmonat Ramadan. Seit einigen Jahren informieren die bundesdeutschen Medien ihre Leser und Zuschauer über die religiöse Praxis ihrer Nachbarn – nicht im polarisierenden, sondern im aufklärerischen Sinne.

Siegfried Kohlhammer: „Die Feinde und die Freunde des Islam“, Steidl Verlag, Göttingen 1996, 223 Seiten, 24 DM