Für Mythenbildung ungeeignet

Die Tagebücher von Victor Klemperer, 1924 bis 1932, zeigen einen kalten und strammen Deutschen, der dummerweise die falschen Eltern hatte. Aber die Aufzeichnungen sind wichtig  ■ Von Michael Schornstheimer

Ein Mann kommt heim aus dem Krieg und fühlt sich gescheitert. 37 Jahre alt und noch kein Amt, geschweige denn eine Karriere in Aussicht. Der protestantischen Gattin in Zuneigung und Liebe verbunden, aber doch entfremdet. Sie musiziert, komponiert, ist ihm geistig über den Kopf gewachsen. Er registriert dies mit quälender Verbitterung: „Diese Liebe wird etwas Armseliges, Unsittliches, wenn sich Eva so über mich hinaus u. von mir fortentwickelt. (...) Eva hat einen Halt gefunden an ihrem Orgelstudium u. ich stehe ihrer Kunst immer bedrückt, manchmal neidisch u. häufig fremd gegenüber.“ Eifersüchtig notiert er: „...quäle Eva sehr“.

Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren zwischen Weltkrieg und Nationalsozialismus zeigen uns keinen sympathischen, sondern einen kleinlichen, verbiesterten Mann. Aber das hat sein Gutes. Denn wer allein die bewegenden Tagebücher aus den Nazijahren („Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“) kennt, gerät in Gefahr, ihn zu idealisieren. Anfangs hielt ich die Publikation der Tagebücher von 1918 bis 32 nur für kühles Verlagskalkül: einem Bestseller noch einen weiteren hinzufügen. Doch diese zusätzlichen 2.000 Seiten sind wichtig. Nun wird niemand Victor Klemperer einzig auf die Opferrolle reduzieren können. Nein, hier ist ein wirklicher Mensch mit sympathischen und unsympathischen Zügen, ein Repräsentant des deutschen Bürgertums, vielleicht sogar typisch.

Kalt war er: Als seine Mutter stirbt, ist ihm dies gerade 20 Zeilen wert. 20 Zeilen! Aber 200 Zeilen freut er sich, wenn er einen Buchvertrag unterschreiben kann.

Depressiv war er, einer, der sich nicht leiden konnte: „So kommt mir alles wertlos, verurteilt und sinnlos vor, was ich nur unternehme. Es wird erst recht ins Nichts sinken. Ich kann das Gefühl nicht loswerden: besser, ich wäre in Flandern gefallen.“

Eingebildet war er: „Ich las einen Hymnis auf Otto Klemperer, der im Gewandhaus dirigiert hat. Ich sagte mir, heute sei er vor Tausenden berühmt u. ich unbekannt. Aber einen Dirigenten vergißt man nach seinem Tod wie einen Schauspieler. Und mein Buch wird vielleicht noch nach 100 Jahren von 100 Menschen gelesen werden.“

Hypochondrisch war er: „Der Nasenarzt quälte mich mit langer Untersuchung am Montag und fand nichts. Der Augenarzt quälte mich mit längerer Untersuchung am Dienstag u. fand eine leichte Entzündung der Sehnerven. Im günstigsten Fall ein bitteres Memento, im ungünstigsten der Anfang vom Ende. Seitdem habe ich keine frohe Stunde mehr gehabt.“ Der jüngste Ordinarius der Romanistik (im Oktober 1920) ist ein alter Mann, der mit Anfang Vierzig immer wieder glaubt, sein Totenglöcklein läuten zu hören.

Und er war der konvertierte Sohn eines Rabbiners, der unter dem verdeckten wie unter dem offenen Antisemitismus litt: „Ich hatte an die Badeverwaltung Hiddensee geschrieben. Antwort ein Prospeckt mit dem Satz: ,Es muß gesagt werden, daß die Juden Vitte grundsätzlich meiden.‘ Ich war einen ganzen Tag lang geradezu krank vor Ekel und Erbitterung.“ Doch der Erbitterte war selbst nicht frei von den „ekelhaften“ Vorurteilen: „Gestern abend bei Tisch ein böser Zusammenstoß. Ein neu hinzugekommener Sanitätsrat, freches jüdisches eitles Schauspielergesicht, feister Fünfziger, Herausgeber irgend einer ärztlichen Zeitschrift (...), redete in unerhörter Weise über die deutsche Schmach. Im Krieg sei nichts geleistet worden, die Deutschen seien alle unehrlich, knechtisch usw. Ich kam ihm furchtbar grob u. ging schließlich hinaus, indem ich die Tür zuwarf.“ Als seine Berliner Verwandten ihn baten, sich doch an der TH für die Aufnahme russischer Juden zu verwenden, empfand er das als „Quälerei“ und notierte empört: „Eine unmögliche Aufgabe und die peinlichste für mich.“ An anderer Stelle notiert er: was für ein „unsympathisches Judenweib“.

Die Tagebücher des Victor Klemperer aus den Jahren 1918 bis 1924 (Band I) sind überwiegend private Aufzeichnungen, von wesentlich geringerer zeitgeschichtlicher Bedeutung als „Zeugnis ablegen“ oder „Curriculum Vitae“. Aber immerhin: Die Eintragungen während der Inflationszeit sind aufschlußreich, vielleicht weil ihm Geldgeschichten immer wichtig gewesen sind. „Unsere Finanzen sind gut, ich habe noch 7 600 M. bare Reserve, mehr als je in meinem Leben. (...) Dennoch: Wenn wir für 2 Pfund Kaffe 128 M zahlen u. wir brauchen wöchentlich 2 Pfund (...) packt mich buchstäblich Angst.“ So kündigte sich auf leisen Sohlen im Februar 1922 die Geldentwertung an. Im November dann haben alle Preise „das 1000fache der Friedenssumme erreicht. Stoffe das 2000fache. Nur das Professorengehalt ist eben erst bei einer Million. Dem Tausendfachen entsprächen 7 Millionen. Und so scheuert man, schleppt Kohlen.“ Im Juli 1923 verbrachten die Klemperers einen ganzen Vormittag auf der Bank: „Dort lagen am Boden vor der Kasse wie Stöße von Zeitungsmakulatur breite Berge von Geldhaufen, lauter 10 000 M.-Scheine als einziges Zahlungsmittel. Wir mußten lange warten. Ich sah 40 Millionen u. ähnliche Summen so auszahlen. Die Empfänger schlugens in Zeitungspapier.“

Die politischen Beobachtungen im 2. Band, der immerhin bis Dezember 1932 reicht, fallen noch spärlicher aus. Es fehlen völlig die selbstkritischen Anmerkungen, die schon im 1. Band selten waren. Akribisch führt Klemperer Buch über seine Reisen nach Paris und Spanien, nach Sizilien und nach Griechenland. Lakonisch notiert er über seine Landsleute: „Ich bin auf Reisen in den letzten Jahren eigentlich immer nur Rechtsstehenden Leuten begegnet. Links war völlig die Ausnahme.“ Gelegentlich ein paar bissige Kommentare zu dem wachsenden „widerwärtigen“ Nationalismus, sowohl in Frankreich als auch in Italien und Deutschland, und einige abfällige Bemerkungen über die Burschenschafter, die ihm noch mehr auf die Nerven gehen als die Kommunisten: „Die Villa neben uns gehört jetzt dem Corps Albingia. Morgens wird im Garten gefochten, Abends manchmal auf der Veranda gesungen. Im Ganzen benehmen sich die Jungen nicht schlecht. Aber daß sie überhaupt das Geld zu solch einer Villa haben, daß ihre Mützen, ihre Schläger, ihre Gesinnung überhaupt da sind, reizt mich.“ Andererseits ist er begeistert über Hans Grimms „Olewagansaga“, eine völkische Lektüre, die die Burschenschafter und die Nazis goutierten. Im Jahresrückblick, Dezember 1932, sind sie ihm keine Zeile wert. Victor Klemperer registriert eine bemerkenswerte Kleinigkeit: „Unser Birkchen ist abgebrochen worden. Symbol?“

Victor Klemperer: „Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918–1932“, Aufbau Verlag 1996, zwei Bände, Hrsg. v. Walter Nowojski, 1876 S., 98 DM, ab 1. März 128 DM