Auf das Christkind und auf Godot

Warten ist das halbe Leben. Es ist schön, es ist schrecklich, und es ist auf jeden Fall einfacher, es eilig zu haben. Nur Weihnachten geht die Uhr anders. Ein Bericht aus den Wartesälen der Republik  ■ Von Philipp Maußhardt

Aufs Christkind. Vor der Ampel. Beim Hausarzt. Warten ist das halbe Leben. Auf das Taxi, auf Godot und besseres Wetter. Stundenlang, tagelang, ein Leben lang. Warten kann so schön sein und so schrecklich: Totschlag der Zeit oder Vorfreude? Und am Ende geht alles dann immer viel zu schnell – warte nur, bald ruhest du auch...

Wer sich die Mühe macht, die Wartezeiten eines Jahres zu addieren und sie auf sein Leben hochzurechnen, muß starke Nerven haben. Die Wahrheit ist nicht leicht zu ertragen: daß ein Großteil der Lebenszeit aus Nichtstun besteht.

Nichtstun? „Sometimes I sit and think“, steht auf einem amerikanischen Poster – manchmal sitze ich da und denke – und darunter: manchmal sitze ich nur („sometimes I only sit“). Der Mann von gegenüber, der sich auf sein Sofakissen stützend jeden Tag zum Fenster hinauslehnt, arbeitet. Er schaut der Zeit beim Verstreichen zu. Und er denkt: Dieses Auto fährt viel zu schnell. Da kommt die junge Frau mit den beiden Kindern. Dort drüben liegt eine leere Cola-Dose, wer hat die nur dort hingeworfen?

Es gibt gar keine Zeit, in der der Mensch nichts tut, sagen Psychologen. Notfalls tut sie etwas mit ihm. Die Stille eines Wartezimmers beim Arzt, das voll mit Menschen ist, täuscht. Denn in den Köpfen rumort es. Warten ist Lauern: Wer wird der nächste sein? Was fehlt dem jungen Mann denn, der sieht doch so gesund aus?

Zeige mir, wie du wartest, und ich sage dir, wer du bist: Auf dem Stuttgarter Flughafen, Montag morgen um sieben Uhr zehn. Vor allem Männer in grauen und schwarzen Anzügen warten auf ihren Flieger nach Frankfurt, Berlin und Leipzig. Sie sind geschäftsmäßig gewohnt zu warten, Profi-Warter sozusagen, nehmen sich, ohne im Schritt anzuhalten, im Vorbeigehen eine Zeitung vom Stapel, werfen sie lässig auf einen freien Sitz und gießen sich aus der bereitgestellten Maschine Kaffee in die Tasse. Lässig, cool und weltgewandt. Keiner redet, und wenn, dann nur mit seinem Handy.

Szenenwechsel: An einer Omnibus-Haltestelle kurz vor Mittag neben der Schule. Fünfzig Schulkinder warten. Während die einen die Plexiglasscheibe mit schwarzen Filzstiften bemalen oder mit einem Blasrohr Knetkugeln gegen den Fahrplan schießen, prügeln sich daneben zwei Jungs. Als endlich der Bus kommt, hat es fast keiner gemerkt.

Wer aufmerksam verfolgte, wie sich die Architektur des Wartens in den letzten Jahren veränderte, darf wieder hoffen. Vorbei die Zeiten, als man in braunen Wellblechhütten die Zeit überbrückte, bis der Postbus kam. Heute gleichen an manchen Orten die Blockhäuser mit Grasdach und Schindelverkleidung eher kleinen Märchenhäuschen, und man ist fast enttäuscht, wenn der Omnibus kommt.

Daß das Warten seine eigene Umgebung braucht, das wußte man noch in der Kaiserzeit. In drei Klassen eingeteilt, warteten die Reisenden auf den Bahnhöfen je nach Geldbeutel auf Holz oder rotem Samt. Der Wartesaal der ersten Klasse lud mit seinen Stuckdecken und Kristalleuchtern zum Verweilen ein und hatte nichts mit dem schnöden Bahnhofscharme heutiger Tage zu tun. Wer hier nach einem Platz zum Warten sucht, wird vom Bahnpersonal allenfalls noch auf das Intercity-Restaurant verwiesen: Der Wartesaal hat ausgedient.

Dabei hatten die Wohlstandsmenschen noch nie soviel Zeit wie heute. Gemessen an einer Lebenserwartung von 75 Jahren macht die reine Arbeit bei einer 35-Stunden-Woche noch lächerliche zehn Prozent der Lebenszeit aus. Der Rest ist Schlafen und Freizeit: 90 Prozent.

Dennoch klagt niemand mehr über den Mangel an Zeit als die Freizeitgeneration. Vom TÜV- Termin zum Elternabend, von der Skigymnastik zum Steuerberater – ein Termin jagt den nächsten und läßt die Sehnsucht wachsen, endlich „mehr Zeit“ zu haben. Für was, das wissen die meisten gar nicht so genau, es ist oft nur ein Gefühl, viel zu schnell zu leben.

Erfolgsbücher wie „Momo“ von Michael Ende oder Sten Nadolnys „Entdeckung der Langsamkeit“ trafen wohl einen verletzten Nerv. Auf der anderen Seite fühlen sich vor allem die Jüngeren durch das plötzliche Anhalten der Zeit unter Druck gesetzt. Geschwindigkeit ist ihr Lebensgefühl und Streß ein Statussymbol. Dabei rast der Mensch durchs Leben, und die Seele bleibt zurück. Aus diesem Grund gründete sich vor Jahren im österreichischen Klagenfurt der „Verein zur Verzögerung der Zeit“. Mittlerweile hat er in Deutschland und Österreich über 1.000 Mitglieder.

Nur in den Weihnachtstagen geht die Uhr plötzlich anders. Auf einmal sollen Kinder warten können, sollen Erwachsene Vorfreude zeigen: eine schwierige Übung. Noch gibt es keinen Kurs der Volkshochschule: „Warten leichtgemacht“. Doch abgewartet! In diesen beschleunigten Zeiten wird ein findiger Seminarleiter schon noch drauf kommen.

Warten nivelliert alle Unterschiede. Ostdeutsche wissen das. Sie bildeten sozialistische Warteschlangen, sobald sie ein Schaufenster sahen. Und wer in der Schlange stand, fühlte sich auf der Gewinnerseite. Man zählte die davor und die danach, arbeitete sich mit Hennendepperchen nach vorne, freute sich, wenn man nach der Hausecke in die Zielgerade einbog und dann in noch weiter Entfernung die Verkaufstheke erkennen konnte: „Aha. Heute also Regenschirme.“ Auch wer keinen brauchte, kaufte. Das Warten mußte sich schließlich gelohnt haben.

Volkscharakter, sollte es ihn geben, erkennt man an der Geduld und ihrer nationalen Ausdrucksform: Wenn drei Engländer einen Omnibus erwarten, stellen sie sich in Reihe auf. Sehr komisch, aber wahr. Während der Ukrainer zum Warten die Ellenbogen benutzt, dreht der Spanier sofort um und sagt: Mañana.

Warum allerdings in Deutschland die Wursttheken immer nur von links bewartet werden, ist schwer zu erklären und muß mythologische Wurzeln haben. Wer sich von rechts anstellt, wird grau, ehe er bedient wird, oder von den Linkswärtern zusammengeschlagen: „Können Sie sich nicht einordnen, Sie Volksschädling!“ Apropos Wurst: „Warte, warte nur ein Weilchen / dann kommt Haarmann auch zu dir / mit dem kleinen Hackebeilchen / macht er Leberwurst aus dir.“ Das Lied vom Massenmörder Haarmann weist nur im Prinzip auf die Lust des Wartens hin. Wenn man sich geduldet, dann passiert etwas, und wenn es etwas Schönes ist, dann hat sich das Warten gelohnt. Es muß ja nicht immer Haarmann sein, der kommt.

Liebende kennen den Augenblick, in dem sich (jahrelange) Entbehrung explosionsartig entlädt. Was weiß die Generation des „One-Night- Stand“ davon?

Die Kultur des Wartens. Alfons Silbermann hat noch nichts dazu gesagt, auch Noelle-Neumann nicht. Bloch spricht nur von erotischen Tagträumen, „die um so üppiger gedeihen, je mehr die Wirklichkeit zur Geduldung mahnt“. Aber mehr nicht.

Nein sagt auch der junge Kulturwissenschaftler vom Ludwig- Uhland-Institut in Tübingen und schaute nochmals in der Karteikarte und im Bücherregal nach. „Nein, tut mir leid, das Warten ist noch nicht erforscht.“