■ Mögliche Orte
: Ruhe im Karton

Es gibt Orte, die muß man nicht lieben. Sie sind groß und unpersönlich, fürs Reden gemacht und für die Demokratie. Zum Beispiel der Saal der Bezirksverordneten im Kreuzberger Rathaus: Selten ist den Architekten der fünfziger Jahre ein skurriler Kasten so gut gelungen wie dieser. Irgendwie erinnert er an einen Schuhkarton – und zwar für Treter der eher grobschlächtigen Art.

Einmal im Monat gehen hier die Lichter an. Patriotisches Fahnenzeug ziert den Raum. Weil es um Hehres geht, hat er doppelte Höhe. Oben in der Galerie sitzt das Publikum. Herr B. – Cheerleader der Demokratie – ist bei jeder Sitzung da. Gnadenlos schreit er hinunter in den Saal. Dabei spricht er schnell, überschüttet die dort Sitzenden mit einem Haufen Vokalen und Konsonanten, outet heftig die Schwulen und die Republikaner in der CDU. Gelegentlich schenkt er der SPD- Stadträtin Blumensträuße. Auch falsche Aufmerksamkeit kann Freude bereiten.

Unten ist Frontalaktion angesagt. Vorne links residiert der Bezirksverordnetenversammlungsvorsteher. Um ihn seine zwei Beisitzer. Rechts nehmen der Bürgermeister und die StadträtInnen Platz. Zwischen ihnen das Rednerpult mit eingeschaltetem Mikrophon. Hier wird laut gesprochen. Dieser Bühne gegenüber sitzen 45 Abgeordnete auf mit orangefarbenem Stoff überzogenen Klappbänken. Wobei „sitzen“ nur für die SPD gilt. Parteidisziplin fängt beim Hintern an. Die ungeerdeten Grünen turnen um die fixierten Stuhllehnen herum, als wären jene Reck, Kasten und Barren in einem. Die schweren, früh gealterten Männer der CDU plazieren sich lieber auf die Besucherstühle am Rand, die Nachkriegsarchitektur ist mit der Leibesfülle nicht mitgewachsen. Zu sehen ist also: ein Häufchen gewählte Demokratie – in einem Schuhkarton, von dem man kurz vor Weihnachten nicht mehr weiß, was mit ihm geschehen soll. Wegwerfen oder behalten? Darauf gibt Unkenntnis die glatteste Antwort. Was soll in einer alten Schachtel schon stecken?

Schnörkel und Schleifen zieren an diesem Ort ausschließlich das gesprochene Wort. Denn hier reden Menschen miteinander, die im wirklichen Leben nie, nie auch nur einen Nebensatz an sich richten würden. Das geht nicht ohne Blessuren ab. Der Gegner soll eingeschüchtert, gewarnt, gelegentlich gar umgestimmt, mit Kompromissen besänftigt werden oder mit Resolutionen bloßgestellt.

Gestritten wird über alles, was den gewählten VertreterInnen des Kreuzberger Kosmos an Entscheidungen offensteht: Kitas, Stadtplanung, Sportplätze, Obdachlosigkeit, kommunale Kultur, Armut, Jugend, Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht ohne Niveau, denn wenn noch irgendwo auf der politischen Bühne die Leute an sich tatsächlich eine Rolle spielen, dann dort. Und wenn es eine Bevölkerung ist, deren Wunden offenliegen, dann scheinen harte Bandagen angesagt. In Kreuzberg stirbt es sich schneller als anderswo. Ungefähr 25 Prozent liegt das Sterberisiko in diesem Bezirk höher als im Berliner Durchschnitt. Das ist amtlich. Kein Wunder, daß der Bezirk abgeschafft werden soll. Auf diese Weise verbesserte sich der Zustand der Bevölkerung schlagartig. Vorerst aber wird noch für die Lebenden gestritten.

Eine symbolische Referenz an den inneren Frieden: Wie prekär dieser ist, zeigt sich an jeder Diskussion über ImmigrantInnen, die immerhin ein Drittel der Bevölkerung des Bezirks ausmachen. Platt und hemdsärmelig kommt die Neue Rechte daher. Gleicher Geist, gleiche Geste, ein Beispiel: Frauenschwimmen für Angehörige des Islam. „Ob bei muslimischen Frauen weibliche Bademeister eingesetzt werden sollen, ist im Grunde genommen nur unwichtiges Beiwerk. Wie würden Sie die Situation einschätzen, wenn schon die Anwesenheit eines männlichen Bademeisters zu einer angenommenen Belästigung führen könnte, wenn es dann eventuell eine lesbische Bademeisterin sein könnte?“ Sexismus, Rassismus und Homophobie in zwei Sätzen.

So viel Dummheit abzuwehren verlangt nach verbaler Radikalität. Eine andere Waffe gibt es nicht auf dieser Probebühne gespielter Demokratie. Wo aber soll die wirkliche gelernt werden, wenn nicht hier? Solange noch gesprochen wird, bleibt man am Leben. Wer Schuhkartons aufbewahrt, weiß, warum. Vergessene Schätze verbergen sich darin. Etwas, das auf geheimnisvolle Weise einfach nicht wertlos wird. Franza Zeller