Dienst am Signifikanten

Von der großen Oper zum tonlosen Belcanto: Die Dieter-Appelt-Retrospektive aus Chicago gibt in der Berliner Fassung manches Rätsel auf  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Bei einem Werkstattgespräch mit Dieter Appelt in seiner laufenden Ausstellung wurde er aus dem Publikum gefragt, warum in seinem fotografischen Werk keine Farbe vorkomme. „Weil sie nicht die Farbe der Gegenstände wiedergibt, sondern immer nur die Farben der Industrie“, sagte Appelt. In einer einzigen Antwort wurde deutlich, worin seine Obsession liegt: den Prozeß der Abbildung zu kontrollieren. Insofern ist sein Name (Ap-bild), mit einer kleinen phonetischen Entstellung, auch Programm.

Appelt hat eine Figur erfunden, der er seinen eigenen Körper geliehen hat. Vor zwanzig Jahren war das eine kompakte männliche Figur mit gestutztem Haar, die an den Füßen aufgehängt war wie geschlachtetes Vieh, die gebunden in verlassenen Räumen lag wie ein vergessener Gefangener, oder in einen Bambusturm gespannt war wie ein Menschenopfer. Der masochistische Zug, der den Szenarien unterlag, wurde ins Feierliche gewendet: Appelt versenkte sich in selbst erfundene Rituale, um in den Bildern die Auslöschung des Subjekts zu zelebrieren. Das Ritual sollte durch den Schmerz hindurchführen und von ihm frei machen. Es war zugleich stellvertretend und existentiell.

50er und 60er Jahre kommen nicht vor

Die Retrospektive des Mannes, der Professor und Dekan an der hiesigen Hochschule der Künste ist, ist keine Idee der Staatlichen Museen, sondern kam als Übernahme vom Art Institute of Chicago (mit zwei weiteren Stationen in Nordamerika) nach Berlin als letzter Station, wo die Kunstbibliothek verantwortlich zeichnet, namentlich deren Fotografiekuratorin Christine Kühn.

Sylvia Wolf, die Kuratorin aus Chicago, deutet die ursprünglichen Impulse in Appelts Werk als biographische. Am Ende des Krieges war Dieter Appelt zehn Jahre alt. Auf einer Halbinsel bei Dessau, wo die Mulde in die Elbe fließt, betrieb seine Mutter ein Ausflugslokal. Zu den prägenden Erlebnissen am Ende des Krieges gehörten die Leichen der Soldaten, die man kopfüber in der Erde fand oder vor sich hinrottend im Schilf. Appelt bestreitet nicht den biographischen Konnex, aber dessen Relevanz für sein Werk.

Die Retrospektive in der Berliner Fassung ist leider, anders als in Chicago, um die frühen Arbeiten aus den fünfziger und sechziger Jahren gekappt und bietet insofern keine Einführung in das Werk. Mit Staunen sieht man im amerikanischen Katalog eine Aufnahme aus der Ruine des Führerbunkers, in die Appelt als 24jähriger heimlich gekrochen war, 1959. Im mehltauartigen Licht erkennt man einen geborstenen Polstersessel vor einem primitiven einbeinigen Tisch. Das Bild ist für den ungewöhnlichen Ort zu konventionell, aber es verrät, daß Appelt dabei war, etwas zu exorzieren.

Seine erste Einzelausstellung hatte Dieter Appelt 1974 an der Deutschen Oper in Berlin, dem Betonkasten an der großen Chaussee in Berlin-Charlottenburg. Appelt war 1959 mit seiner Frau Hanna in den Westen abgehauen, im Ohr ein paar Jahre Ausbildung an der Mendelssohn-Bartholdy- Akademie in Leipzig. Das erste Kind – eine Tochter, feierlich Guiletta genannt – ist schon geboren (der Sohn wird, im Jahr der Mauer, Igor heißen). Appelt wird Sänger an der Oper, die er 1979, mit 44 Jahren, für die bildende Kunst verläßt. Sein kultisches Werk – „Monte Isola“, „Der Augenturm“ etc. – ist zu diesem Zeitpunkt schon entfaltet. 1982 wird er Professor am Fachbereich 6 der HdK, wo er in einem Parallelstudium bei Heinz Hajek-Halke zwei Jahrzehnte zuvor selbst Student gewesen war.

Die Retrospektive in Berlin findet in dem grotesken Gebäude am Kulturforum statt, das offensichtlich keinen Namen hat, dafür aber ein Foyer, das zum Handballspiel geeignet ist. Appelts Arbeit wird in zwei überschaubaren Räumen gezeigt, die vom Schnitt identisch und von nüchterner Solidität sind. Es gibt seine Klassiker zu sehen – wie den in Birkenrinde übergehenden liegenden Körper in extrem verkürzter Sicht (aus: „Erinnerungsspur“); es gibt gigantische Tableaus; und Sequenzen kleinformatiger Bilder in schweren Metallrahmen, wie die aus dem Film „Image de la Vie et de la Mort“ herauskopierten Kopf-Stills. Alle Arbeiten in dunklen Rahmen wirken kraftvoller als jene in Naturholzrahmen, die leider zahlreich sind. Irritierend sind die Relikte seiner Aktionen – zum Beispiel ein Bambushalter, in den der Kopf eingekerkert wurde –, die gezeigt werden wie Skulpturen oder Reliefs, teils unter Glas. Im Werkstattgespräch allerdings erklärt Appelt, daß es sich dabei nicht um Kunstwerke handele.

Klar ist, daß die Fotografie für ihn nie „nur“ Dokumentation der einsamen Aktionen bedeutete, sondern daß die Inszenierung Teil des fotografischen Projekts war und ist. Insofern arbeitet Appelt nicht anders als Cindy Sherman, und greift ihr sogar um drei oder vier Jahre vor. Andererseits liegt es Appelt völlig fern, die sozialen Implikationen bereits vorhandener Bildwelten zu persiflieren (oder auch nur zu durchdringen).

Im Gegenteil, seine Inszenierung rührt gezielt an das Archaische. Es ist ein Freilufttheater, eine tonlose Oper, ein mit Pathos geladener Vorgang. Appelt setzt darauf, daß die metaphysische Erfahrung, die er bei seinen Inszenierungen macht, sich dem Betrachter in der Fotografie mitteilt. Es ist der Gottesdienst am Signifikanten, wie man ihn von Cy Twombly, Arnulf Rainer und James Lee Byars kennt.

Wie Sherman oder Timm Ulrichs hat auch Dieter Appelt versucht, seine Kunst von seinem Körper zu lösen. So baut Appelt Dinge aus Schrott, die in hoher Geschwindigkeit rotieren; allerdings nur, um sie 50.000 Mal zu fotografieren, jedesmal, wenn sie eine Drehung um 360 Grad absolviert haben. Was in Appelts Werk, auch in seinen Gesichtsstudien, ganz deutlich heranwächst, ist ein versessener Umgang mit Tiefen, Schwärzen, Schatten sowie mit Lichtern, Reflexen, weißen Stellen.

Schatten, Schwärzen, und „zuviel“ Licht

Man muß an die Versuche von Helmar Lerski denken, in ein einziges Gesicht mit hunderten von fotografischen Varianten die Züge des kosmischen Menschen einzuspiegeln. Auch Lerskis Mittel war „zuviel Licht“.

Die Retrospektive selbst aber ist an Herleitung schwach. Aus dem großen Werkblock „Erinnerungsspur“ werden nur rare Beispiele gezeigt, während deutlich schwächere Arbeiten aus den neunziger Jahre zuviel Platz bekommen: „Hohlraum – Konstruktion für einen Baum“ zum Beispiel, oder „Circuito“, beides verschwommene Arbeiten zum Thema des Volumens, ohne jede Berührungsangst mit dem Kunsthandwerk. Man spürt jetzt den Einfluß anderer zeitgenössischer Fotografen, die den eigenen Körper einsetzen – Thomas Florschuetz, John Coplans –, aber es springt kein Funke über. Der Schmerz ist überwunden; das Atelier läuft weiter.

Die vorerst letzte starke Arbeit ist „Canto II“ von 1991, eine Studie über den Daumen im Mund, der als trockener Bolzen die feuchten und verzerrten Lippen schließt. Die Arbeit hat etwas Drängendes und Dringendes. Es sieht so aus, als sei die Haut von unten in die fotografische Oberfläche geritzt.

Umgekehrt gibt es bei Appelt keine nachvollziehbare Erfahrung von räumlicher Tiefe. Sie bleibt ungewiß. Seine Fotografie ist fixiert auf das Objekt. Sie ist vielleicht doch fetischistischer, als ihr stählernes Informel glauben macht.

Bis 5. 1., Di.–Fr. 9–17 Uhr,

Sa./So. 10–17 Uhr, Matthäikirchplatz 6, Katalog 42 DM,

US-Katalog 60 DM