Warum erschossen?

■ "Alles Wahrheit! Alles Lüge!": Köln zeigt die Sammlung Robert Lebeck mit großen Worten in kleinen Häppchen

Eine anonyme Fotografie von 1866 zeigt uns „Spaziergänger im Schloßpark von Versaille“. Der Reportagefotograf Robert Lebeck bezeichnet sie als sein Lieblingsbild der Sammlung, denn sie zeige, wie früh bereits Momentaufnahmen möglich waren. In der Mitte ein großer Springbrunnen, die Damen tragen bodenlange, ausufernde Kleider und Sonnenschirme, die Herren Gehrock und Zylinder. Viel mehr ist auf dem Bild nicht zu erkennen: Es zeigt die zentrale Achse des Parks in einer Totalen, aber die Fotografie ist nur 7,9*7,2 Zentimeter groß. Das war der Preis für den Moment, damals.

Mir scheint die Problematik dieser Aufnahme die gesamte Ausstellung und ihren Katalog metaphorisch zu erhellen. Es ist ein Projekt brillanter Details in falschen Proportionen, mit den richtigen Fragen, aber wenigen Überraschungen.

Man hatte es nicht eilig, und alles sollte sorgfältig vorbereitet werden. Bereits 1993 kaufte die Stadt Köln mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder, des NRW-Kultusministeriums und der Stiftung Kunst und Kultur für das Wallraf- Richartz-Museum die Sammlung Lebeck. Es heißt: für 4,2 Millionen.

Lebeck hatte eher an das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg gedacht, wo die Sammlung tatsächlich eine Lücke zwischen der gut dokumentierten Frühzeit und der Kunstfotografie um 1900 füllen würde. Über Jahre kam das Geld nicht zusammen, und die Sammlung drohte in die USA zu verschwinden – wie noch 1964 die berühmte Sammlung Gernsheim.

Diesmal jedoch war das heute im Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig angesiedelte Agfa Foto-Historama schnell genug, die einzigartige Sammlung im Lande zu halten, und man versprach, die Reichtümer in einer großen Ausstellung zu präsentieren.

Alben ohne Rückenaufschrift

Der Sammler Robert Lebeck war in den letzten 30 Jahren als einer der profiliertesten Fotografen des Stern unterwegs, und man kann sich nur wundern, was er neben dieser Tätigkeit seit Ende der sechziger Jahre zusammengetragen hat. Sein Interesse galt von Anfang an allein dem 19.Jahrhundert, das er als unterbewertet empfand. Zunächst durchstöberte er Antiquariate, weltweit; bereits legendär seine Vorliebe für Alben ohne Rückenaufschrift, die sich offenbar nicht selten als Fundgruben erwiesen. Später kaufte er auf Auktionen verschiedene Inkunabeln und große Namen hinzu. Über 10.000 Fotografien kamen auf diese Weise zusammen.

Aus diesem großartigen Bestand werden nun 250 Bilder im häßlichsten Ausstellungsraum Kölns gezeigt: dem Grafischen Kabinett des Museumkomplexes. Daß die Depression sich in der verwinkelten, fensterlosen, beige- braun bespannten Raumfolge in Grenzen hält, verdankt die Ausstellung ihrem Gestalter Ulrich Tillmann, der die eingezogenen Stellwände in sonnigem Gelb streichen ließ und damit der Ausstellung trotz des aus konservatorischen Gründen unumgänglich reduzierten Lichts eine frische Ausstrahlung gab.

Untergliedert werden die 250 Fotografien in elf Gruppen mit je 15 bis 30 Bildern unter zum Teil gewagten Themen: Mögen „Der Fotograf im Krieg“ oder „Die Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft“ sich noch im vertrauten Kanon der Fotogeschichte bewegen, erstaunen Themen, die gleichzeitig eine These formulieren: „Die Erfindung der Natur durch die Fotografie“, heißt es da in herrlicher Übertreibung, wo es doch wohl nur um das Naturbild gehen kann. Unter „Inszenierte Idealfiguren“ wird mit einer Reihe weiblicher Akte und Porträts (unter anderem von Julia Margaret Cameron, Lewis Carroll und Eugène Durieu) versucht, die Idealisierungen der damaligen Fotografie aufzudecken.

Mag sein, daß sich mit dem Bildmaterial dieser Sammlung die These schlecht belegen läßt, jedenfalls fragte ich mich unwillkürlich nach dem Realitätsbegriff, wenn diese Bilder für ein Ideal einstehen sollen (welchem eigentlich?). Und was verbirgt sich hinter „Dokumentation der Wirklichkeit“ in diesem Themenreigen? Stadtansichten und Sozialdarstellungen. Die sind natürlich genauso gesucht und inszeniert. Nur werden mit einer solchen Themensetzung nicht alle anderen Bereiche wie beispielsweise „Der höfische Umgang mit der Fotografie“ oder „Die fremden Welten in Fernost“ für unwirklich erklärt?

Ausstellungen zur Fotografie des 19.Jahrhundert gelten als ehrenwert, aber nicht sonderlich interessant; im Wortsinn, wir sind nicht mehr so recht dabei. Die Erstarrungen und Inszenierungen aufgrund der unentwickelten Technik wirken ungeheuer fern. Zuweilen gilt es, über ungenügende Erhaltungszustände der Originale hinwegzusehen. Die fast durchweg kleinen Formate erfordern einen ausgesprochen konzentrierten Blick. Und man muß viel über die Herstellungsbedingungen und politischen Hintergründe, die Auftragsverhältnisse und Verwendungszusammenhänge wissen, um ihren Wert zu ermessen. „Das Hemd, in dem Kaiser Maximilian erschossen wurde“ – Fotografie und Tod, ja, da gab es einen Zusammenhang. Im Format 21,7*15,5cm. Aber: Wer, bitte, hatte geschossen? In Mexiko, 1867? Aha. Und warum erschossen? Für welche Politik? Von wem?...)

Daher der Drang, den Ausstellungen prägnante, richtungsweisende Titel zu geben, hier: „Alles Wahrheit! Alles Lüge!“ in dieser Klammer, so der Untertitel des Projekts, soll die „Photographie und Wirklichkeit im 19.Jahrhundert“ gefaßt werden: Eine universale These für die gesamte Fotografiegeschichte des letzten Jahrhunderts, dargelegt in einer Kabinettausstellung, unterfüttert aus 10.000 Fundstücken, die ein privater Sammler in rund 25 Jahren zusammengetragen hat.

So richtig es ist, diese Bilder unter kulturhistorischen Fragestellungen zu erschließen, so sehr Lebeck seine Sammlung unter museal repräsentativen Gesichtspunkten angelegt haben mag, eine derartige Überhöhung des Anspruchs kann dem Thema (den elf Themen!) nicht gerecht werden, insofern sich die Ausstellung allein auf die Materialbasis einer Sammlung stützt. Auch wird sie dem Material nicht gerecht, weil sie dessen Präsentation in der Raumnot auf eine Auswahl möglichst sehr schmackhafter Häppchen beschränken muß und das Verhältnis von Dargebotenem zu Verschwiegenem im unklaren läßt. Sie ehrt auch nicht den Sammler, von dessen Einsatz sie beständig abstrahiert; unter einem universell gespannten Themenbogen werden eben nicht die „Einzigartigkeit und Besonderheit dieser Sammlung gewürdigt“, wie es in der Ankündigung heißt.

Man mag es einfach Lüge nennen

Nur wenige dieser Fotografien entstanden im Sinne autonomer Kunst. Enzyklopädisch ausgerichtet (die Welt in Bildern) genügten sie sich formal in der Erfüllung bildnerischer Standards: typisierende Totalerfassung des Gegenstands, gefällige Komposition, alle Bildgegenstände im Schärfebereich. Unserem abgeklärten Blick hundert Jahre später scheint diese bebilderte Welt, ihre Wahrheit, irgendwie bekannt, das Maß ihrer fotografischen Stilisierung und Besonderung, man mag es der Einfachheit halber Lüge nennen, schwer einzuschätzen. Kurzum, die spontane Faszination der Aufnahmen ist gering, sie ist erst mittels aufwendiger Studien zu kompensieren.

So kommt dem Katalog bei historischen Themenausstellungen zu Recht eine wichtige Vermittlungsaufgabe zu, mehr noch: Nicht selten gilt er den Projektbetreibern als das eigentliche Ziel ihrer Arbeit. Aber wo historische Fotobücher ohne Ausstellung nicht mehr finanzierbar scheinen, werden wir uns an solche Verkehrungen zu gewöhnen haben.

Der knapp 500seitige Katalog, der ebenso wie die Ausstellung vom Leiter des Agfa Foto-Historama Bodo von Dewitz und seinem Projektmitarbeiter Roland Scotti verantwortet wird, umfaßt 280 großenteils hervorragend gedruckte Bildtafeln (davon 50 in Farbe), weitere 100 informative, wenn auch arg klein geratene Textabbildungen und 21 sorgfältig, etwas umständlich edierte Textbeiträge von 17 Fachautoren. Hier lesen sich die pauschalen Formulierungen der Ausstellung weit differenzierter, wenngleich es erstaunt, auf so globale Themen zu stoßen wie „Fotografen im 19.Jahrhundert“, „Die Fotografie im Zweiten Kaiserreich“ oder „Architekturfotografie und Stadtbilddokumentation im 19.Jahrhundert“ – Titel, unter denen man inzwischen eigene Großkataloge und Dissertationen findet; andernorts hat sich das Interesse der Fotogeschichte bis zum Dorffotografen im unterfränkischen Vasbühl (1905–1920) differenziert.

Angemessener die Beiträge, die sich auf ein Konvolut oder ein Album der Sammlung konzentrieren, es historisch verorten und von ihm ausgehend weiterreichende Fragestellungen formulieren: „John Thomsens Street Life in London“ (Sylvia Sokop), „Unterwegs in Abessinien“ (Gerd Gräber), „Das China-Album des Julius Menke“ (Gerrit Aust), „Die Fotografen Ch. L. Weed und C. E. Watkins im Yosemite-Valley“ (Hans Christian Adam) ... Reinhard Matz

„Alles Wahrheit! Alles Lüge! Photographie und Wirklichkeit im 19.Jahrhundert. Die Sammlung Robert Lebeck“. Ausstellung des Agfa Foto-Historama im Wallraf- Richartz-Museum/Museum Ludwig, Köln, bis 2. Feburar 1997. Katalog: Verlag der Kunst, Dresden, 488 Seiten, 21 Textbeiträge, 380 Abb., 58 DM, im Handel 168 DM