Die Inszenierung mißlang gründlich. Am Weihnachtsabend standen in Belgrad den rund 50.000 angekarrten Präsidentenunterstützern weit über 250.000 Belgrader BürgerInnen gegenüber. Die Anhänger und Gegner Miloševićs lieferten sich dabei teilweise heftige Auseinandersetzungen Aus Belgrad Georg Baltissen

Doswidanja Milošević

Schon am Vormittag ist Belgrads Innenstadt eine reine Fußgängerzone. Weiträumig sind die Straßen abgesperrt. Fußgängerkolonnen ziehen auf der Straße oder dem Bürgersteig zur Terazije. Dort spielt die Musik. Dort haben am Heiligabend die Kontrahenten zum gegenseitigen Kräftemessen aufgerufen. 400.000 Milošević- Anhänger sollen aus der Provinz herbeigekarrt werden, um den Belgradern Mores zu lehren. Doch es kommt erst einmal andersherum. Ob mutig, dumm oder schlicht provokant, sei dahingestellt. Um halb zwei marschiert eine 20 Mann starke Truppe mit Milošević-Plakaten die Terazije entlang, vorbei am Büro der Demokratischen Partei. 150 Meter sind sie noch von ihrem Ziel entfernt, dem Kundgebungsort der Pro-Milošević-Demonstranten. Mehrere tausend Milošević-Anhänger haben sich dort bereits vor einer am Morgen eiligst errichteten pompösen Tribüne aufgebaut. Das serbische Staatsfernsehen hat seine Kameras in Position gebracht. Gleißendes Scheinwerferlicht erhellt die neblig-trübe Szenerie. Normalerweise verläuft hier der tägliche Demonstrationsweg des Oppositionsbündnisses Zajedno. Jetzt ist die Straße blockiert. Nur 50 Meter von der Tribüne entfernt haben sich Tausende Zajedno-Demonstranten auf der Straße postiert. Ein ohrenbetäubendes Trillerpfeifenkonzert und kollektive Buhrufe gelten den Milošević-Plakaten und ihren Trägern.

Zwei Häuser schafft der Trupp noch unter wütenden Beschimpfungen und Drohgebärden. Dann ist sein Schicksal besiegelt. Jugendliche reißen die Milošević-Plakate nieder. Fäuste fliegen, es hagelt Tritte. Mit zerbrochenen Plakatstöcken dreschen die Gegner aufeinander ein. Das Verhältnis ist zu ungleich. Den Milošević-Anhängern bleibt nur die Flucht.

Schon um zwölf Uhr, drei Stunden vor Beginn der Kundgebung, haben sich die ersten Milošević- Demonstranten auf dem Platz der Republik am Ende der Terazije, dem täglichen Kundgebungsort von Zajedno, versammelt. „Pec, Kosovo“ steht auf ihren Schildern. Es sind Arbeiter und Bauern, wie man an ihren zerfurchten und wettergegerbten Gesichtern leicht erkennen kann. 150 Dinar (knapp 50 Mark) Gehaltsvorschuß, freies Essen und freien Transport haben sie bekommen, um für ihren Präsidenten heute zu demonstrieren.

Und ein bißchen nachgeholfen haben die Oberen auch: „Sie haben uns mit Entlassung gedroht“, sagt Mirko, ein etwa vierzigjähriger Arbeiter aus Pec. Die meisten von ihnen sind zum ersten Mal in Belgrad. Sie wissen über die Demonstrationen, den Streit um die Kommunalwahl bestenfalls das, was das staatliche Fernsehen berichtet hat.

Offiziell aufgerufen zu der Pro- Milošević-Demonstration hat die Sozialistische Partei des Präsidenten. Der werde auch kommen, wenn genug Leute da sind, meldet die staatliche Nachrichtenagentur.

Drei Meter vor den Kosovo- Serben stehen Zajedno-Demonstranten. „Das sind Affen“, sagt einer, „die wissen gar nicht, was in Belgrad los ist.“ Nach einigen Pöbeleien und Handgreiflichkeiten ziehen die Milošević-Anhänger ab zur Tribüne in der Terazije. Ein Dreckklumpen fliegt hinterher. „Doswidanja, doswidanja, auf Wiedersehen, auf Wiedersehen“, singen die Belgrader.

Zehntausende Belgrader haben sich inzwischen in der Innenstadt eingefunden. Ein Zajedno-Sprecher erklärt, Slobodan Milošević wolle Auseinandersetzungen provozieren, um dann alle Demonstrationen in Belgrad zu verbieten oder gar den Ausnahmezustand zu verhängen.

In der Terazije ist ein neuer Trupp von Milošević-Anhängern aufgetaucht. Sofort blockieren Zajedno-Anhänger die Straße. Kein Durchkommen. Wieder setzt eine gegenseitige wilde Schimpfkanonade ein, untermalt von obszönen Gesten. Ein paar Handgreiflichkeiten gibt es auch. Dann machen die Milošević-Anhänger kehrt. Die Belagerung der Tribüne auf der Terazije wird von Minute zu Minute dichter und bedrohlicher. „Wenn Serben auf Serben einschlagen, dann bleibt es nicht bei Fäusten. Dann werden Messer und Pistolen gezückt“, sagt ein älterer Herr und tritt den Rückzug an. Noch immer ist keine Polizei aufgetaucht, um die Demonstranten zu trennen. Dann macht ein Gerücht die Runde. In der Knez Mihailova, unweit der Terazije, sei ein Mann erschossen worden. Auch dort verwehren Zajedno-Anhänger den Milošević-Demonstranten den Durchgang.

Ein Krankenwagen bahnt sich mühsam mit Sirene den Weg durch die Menge. Das Gerücht bestätigt sich. Aus einer Gruppe von Milošević-Anhängern heraus ist tatsächlich geschossen worden. Ein junger Mann, der gerade an einer Imbißbude stand, ist durch einen Kopfschuß lebensgefährlich verletzt worden. Später heißt es, die Polizei habe den Schützen festgenommen.

Um kurz nach zwei marschiert die Miliz auf, mit riesigen Plastikschildern und überlangen Knüppeln. Tausende rennen in wilder Panik durcheinander.

Zoran Djindjić und Vuk Drasković fordern ihre Anhänger zum Rückzug auf. „Geht zurück. Lauft nicht in die Falle. Keine Gewalt!“ dröhnt es immer wieder aus den Lautsprechern vom Balkon des Büros der Demokratischen Partei. Abertausende Flugblätter mit Verhaltensregeln segeln von der obersten Etage des Bürohauses auf die Straße.

Die Menge folgt nur langsam und widerwillig. Zu langsam für die Miliz. Sie unternimmt einen Ausfall, stürmt in die Menge und macht rücksichtslos vom Schlagstock Gebrauch. Etliche Demonstranten werden zusammengeknüppelt und mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert.

Weit über 250.000 Demonstranten haben sich gegen 15.30 Uhr auf dem Platz der Republik eingefunden. Der Lautsprecherwagen von Zajedno ist vorgefahren. Die Führer des Oppositionsbündisses zeigen sich der Menge. In einer kurzen Ansprache fordert Zoran Djindjić die Demonstranten zur Gewaltfreiheit auf und legt die neue Demonstrationsroute fest. Es dauert länger als eine Stunde, bis sich die letzten Demonstranten in den Zug eingereiht haben.

Etwa zur gleichen Zeit tritt Slobodan Milošević vor seine Demonstranten. Es mögen knapp fünfzigtausend sein. Von der angekündigten Menge von 400.000 Demonstranten ist er weit entfernt. Er fordert ein freies und starkes Serbien, das sich unbeugsam zeigt gegen Ost und West. Milošević-Anhänger rufen „Verhaftet Drasković“ und „Verräter, Verräter“, sobald Milošević auf Zajedno zu sprechen kommt. Schon vorab haben ihm seine Parteigänger Ergebenheitsadressen zukommen lassen, in denen vom „Terror der Straße“ und von „ausländischer Einmischung und fremden Agenten“ die Rede ist.

Der Riß geht mitten durch Serbien. Die städtische Intelligenz steht gegen die ländliche Bevölkerung. Und es ist, wie immer auf dem Balkan, auch ein historischer Komplex. „Viele der heutigen Kommunisten“, sagt ein Journalist, der lange Jahre für die staatliche Agentur Tanjug gearbeitet hat, „fürchten, im nachhinein noch verantwortlich gemacht zu werden für die Ausrottung der städtischen Intelligenz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als in Serbien mehr als 200.000 Menschen getötet wurden.“ Und nach einer Pause fügt er hinzu: „Und ich bin mir nicht sicher, daß sie wirklich keinen Grund haben, sich zu fürchten.“

Der Heimweg wird für viele Belgrader zu einem erzwungenen Umweg. Der Polizeikordon auf der Terazije weicht keinen Millimeter. Schimpfend und trillerpfeifend ziehen sie durch die dunklen Nebenstraßen. Vor einem Fernsehgeschäft haben sich einige Dutzend versammelt, um den CNN- Nachrichten über die Belgrader Demonstrationen zu lauschen. Es werden Bilder gezeigt von den Krawallen und Ausschnitte aus der Rede des Präsidenten. Letztere wird mit einem Trillerpfeifenkonzert quittiert. „Es ist eine Schande, daß sie solche Menschen nach Belgrad gebracht haben und sie so mißbrauchen“, sagt Slavoljub Jović, Abgeordneter der Demokratischen Partei im serbischen Parlament.

An einer zentralen Straßenkreuzung, unweit vom jugoslawischen Bundesparlament, stehen Dutzende von Bussen mit Milizsoldaten. Slavko, ein Bauingenieur, zeigt ihnen den serbischen Gruß mit drei gespreizten Fingern. Müde und verschlafen, eher teilnahmslos, blicken die meisten aus den Busfenstern. „Meine zwei Söhne sind auch da draußen“, sagt Slavko. „Sie sind nicht nur mutig, sie sind geradezu übermütig. Aber wenn wir gewinnen wollen, brauchen wir die Unterstützung von Europa“, fügt er hinzu, „und zwar dringend. Sonst werden wir nie den Anschluß schaffen.“