Noel-baba, erster Gastarbeiter

■ Silvesterbaum statt Weihnachtsbaum und verschobene Feiertage: Silvester bleibt das große Fest, doch türkische Immigranten der 2. Generation feiern zunehmend Weihnachten

„Frohe Weihnachten“ wünscht Özcan Mutlu, als bei ihm am zweiten Weihnachtsfeiertag das Telefon klingelt. Wie viele türkische Einwanderer der 2. Generation feiert der 28jährige „seit ein, zwei Jahren“ das Weihnachtsfest – vor allem seinem siebenjährigen Sohn zuliebe. „Vorher ging es an uns vorbei“, sagt Mutlu, der in Deutschland aufgewachsen ist. „Zu meiner Zeit gab's das nicht, daß in türkischen Familien Weihnachten gefeiert wurde“, erinnert er sich. „Es war traurig, wenn die Mitschüler alle von ihren Geschenken erzählten.“ Immerhin füllte schon damals der Nikolaus die frischgeputzten Stiefel von Özcan Mutlu.

Der Nikolaus ist auch jetzt das Bindeglied zwischen westlicher Weihnachtstradition und türkischer Kultur. „Der Weihnachtsmann ist einer von uns“, sagt der Politologie-Student Ceyhun Kara. Nikolaus war Bischof von Myra, dem heutigen, in der Nähe von Antalya gelegenen Demre. Der Nikolaus, der in den USA vor hundert Jahren zum Santa Claus, dem Weihnachtsmann, mutierte, kehrte auf diesem Umweg wieder in die Türkei zurück, als Noäl- baba. Das Wort für Weihnachten entlehnten die Türken aus dem Französischen und fügten ein türkisches baba für Vater hinzu.

„Der Weihnachtsmann war der erste Gastarbeiter“, scherzt Ceyhun Kara in Anspielung auf den Nikolaus. „Er macht keinen Unterschied zwischen den Religionen.“ Durch die Anknüpfung an Nikolaus habe man „nicht das Gefühl, etwas Christliches zu übernehmen“.

Dagegen gehört für die Minderheit der türkischen Christen das Weihnachtsfest seit eh und je zum religiösen Höhepunkt des Jahres. Doch auch hier haben sich die Traditionen verändert. Nach dem julianischen Kalender fällt das Weihnachtsfest für die orthodoxen Christen auf den 6. Januar. Doch in der bundesdeutschen Diaspora verlegen viele türkische Christen die Bescherung auf den 24. Dezember.

Auch in Istanbul ist die zunehmende Amerikanisierung der türkischen Gesellschaft spürbar: In den Einkaufsstraßen der Metropole wurden in diesem Jahr Weihnachtsmänner gesichtet. An die Kinder verteilten sie Süßigkeiten, an die Erwachsenen Werbezettel. Die türkischen Geschäftsleute haben die absatzfördernde Wirkung der Weihnachtsdekoration entdeckt: Seit drei, vier Jahren werden die Einkaufsstraßen in westtürkischen Städten wie Istanbul und Izmir mit bunten Lichtern geschmückt. So verschiebt sich der türkische Brauch, den Kindern zu Silvester etwas zu schenken, in manchen Familien um ein paar Tage nach vorne. Silvester bleibt jedoch das große Ereignis, das „richtig pompös“ gefeiert wird. Man geht in teure Clubs oder feiert mit Familie und Freunden zu Hause.

Eine Metamorphose erlebt auch der Weihnachtsbaum in der Türkei: Er wird zum „Silvesterbaum“ umfunktioniert. Der wird zwar nicht mit Engeln bestückt, aber mit Lichterschmuck und glitzernden Girlanden. „Beim Konsumverhalten gibt es mehr Gemeinsamkeiten als beim Zusammenleben“, stellt der Politologie- Student Ceyhun Kara fest. Lebkuchen, Adventskalender und Plastik-Tannenbäume haben in Deutschland längst Eingang in türkische Wohnstuben gefunden. Die Kinder basteln in der Schule Weihnachtsschmuck und lernen Weihnachtslieder. „Als Kind habe ich meine Eltern jedes Weihnachten terrorisiert, daß sie mir ein Geschenk machen“, erinnert sich Ceyhun Kara. Sein Vater geriet damals in Zugzwang, als ein deutscher Nachbar anbot, auch den türkischen Nachbarskindern die Nikolausstiefel zu füllen. Da wollte er nicht hintenanstehen.

„Es macht Spaß, Weihnachten zu feiern“, sagt Kara. Und auch ein gestandener türkischer Linker, der mit einer Deutschen verheiratet ist, hat „richtig mit Tannenbaum und Bescherung“ gefeiert. „Ich feiere schon seit zehn, fünfzehn Jahren“, sagt er. „Mir gefällt das Festliche, es ist so eine Freude und Wärme dabei.“ Schon als Student faszinierte ihn, daß in der individualisierten deutschen Gesellschaft einmal im Jahr Familiensinn aufkam und zwei oder drei Generationen um den Tannenbaum versammelt waren. „Die türkisch- deutschen Familien feiern alle Weihnachten“, hat er festgestellt. Dorothee Winden