Dittmeyers Fernsehjahr 96

■ Das TV-Geschehen: Alphabetisch aufgelistet, wegsortiert und abgehakt

ABSCHALTJAHR – Erstmals gelang der Nachweis, daß auch einer Margarethe Schreinemakers das Mundwerk gelegt werden kann. Die Dokumentation des entscheidenden Experiments blieb wie zufällig deren neuem Wirtssender RTL vorbehalten und wurde ebenda exklusiv zum besten gegeben. So hatten alle was davon. Auch Schreinemakers' Steuerklassenkameradin Hera Lind.

BIOMÜLL – Von scheint's vollends ehrvergessenen Buchhändlern wg. 400.000 verkaufter Hobbykochbücher zum „Autor des Jahres“ gekürt, verdiente sich Maître Alfred Biolek zusätzlich im Angesichte Kohls den Ehrentitel „Hofnarr des Jahres“. Was aber die Auflage angeht, schlägt Hera Lind den einnehmenden Schwatzmeister noch immer um Längen.

CLUB RTL – Sensationelle Weltpremiere: Unter Laborbedingungen initiierten Wissenschaftler des Hauses Bertelsmann einen Sendeschluß noch vor dem bislang unerläßlichen Programmstart.

DIALEKTIK, LUZIDE – Die US-amerikanischer Serienproduktionen nämlich. Wir werden ihrer jeweils samstags gewahr, wenn auf Sat.1 die liebenswerten „Friends“ im Streben nach Erfolg regelmäßig klaglos scheitern und dabei ungeheuer viel Spaß haben, derweil bei RTL im urbanen Umfeld von „Central Park West“ allerlei Schnepfen und Schnösel an der Spitze der Gesellschaft balancieren – und schlechterdings leiden, was die Seele hergibt. Eine dermaßen knackige Signifikanz kriegen die Teutonen Rademann, Ringelmann und Konsorten einfach nicht hin. Vielleicht wagt Hera Lind einmal einen Versuch?

ENTWICKLUNGSHILFE – ... in Höhe von 276.000 Mark gab's vom warumauchimmer zuständigen Ministerium für den ARD-Mehrteiler „Klinik unter Palmen“. Genutzt hat's nichts – mit seiner bresthaften Dramaturgie, dem rachitischen Konstrukt und einem anämischen Erscheinungsbild war das hinfällige Werk unheilbar dem Tode geweiht.

FITZ – In einem Maße konsensfähig, daß einem schier mulmig werden mochte. Die dann infolge gewisser Redundanzen doch recht willkommene Neige bereitete auch den acht- bis neunmalklugen Exegesen ein Ende, deren Verfasser uns sehuntüchtigen Normalzuschauern gewisse Feinheiten nahezubringen suchten, dabei aber nicht einmal in der Lage waren, den Schauplatz korrekt zu benennen: Der Psychobolide war nicht in „Liverpool“ (Der Spiegel) zugange, vielmehr bugsierte er seinen ausladenden Leib durchs spätkapitalistische, insgesamt „not so nice“ (Queen Elisabeth) Manchester. In Abwandlung eines zwingenden Zitats von Walter Moers: „Fernsehkritiker!! – Prrffzzffzz!!“

GEHEIMNISVOLL – Weil aus 1plus ein knallrot prangendes Minus geworden war, beschloß die ARD seinerzeit die Einstellung ihres kulturellen Nischenprogramms. Das Sparen hat sich offenkundig gelohnt, denn unvermittelt reicht das Haushaltsgeld gar für gleich zwei neue Nebenkanäle. Darüber freut sich vor allem Hera Lind, tun sich doch endlose Betätigungsfelder auf, die es fürderhin zu beackern gilt.

HEINZE, DORIS J. – Ob „Wilde Herzen“ oder Hamburger „Tatort“, Kerkeling oder Königstein – wann immer ein Fernsehstück durch eine schöpferische Note, einen unorthodoxen Approach oder eine exzeptionelle Anmutung auffiel, war nicht selten dieser Name im Nachspann zu erspähen. Die Fernsehpreise aber wurden anderen zugeschanzt.

INFOTAINMENT – Mehr als zehn Stunden der täglichen Sendezeit, so versprach die ARD Anfang des Jahres, sollten mit Informationen gefüllt werden. Darauf gab die „Brisant“-Redaktion einen aus.

JAUCH, GÜNTHER – Glaubte bis vor kurzem, das Wort „Schneideraum“ sei das deutsche Wort für „Frisiersalon“.

KÜPPERSBUSCH, FRIEDRICH – Eine neue Spielstätte auf- und ausgebaut, die Produktion teuer ausgelagert, mürbe Witzchen gerissen, Quoten in den Keller getrieben. Nun möchte man aber über Küppersbuschs „Privatfernsehen“ auch mindestens ebensoviel Häme ausgeeimert sehen wie grad vor Jahresfrist über Harald Schmidt.

LANGSAMKEIT – Ist entgegen eindringlicher Mahnungen insbesondere jenes Schlages von Fernsehkritikern, der sich nur alle paar Jahre mal vor der Mattscheibe einfindet, längst wiederentdeckt und nachgerade en vogue, sei es hochwertige Importware wie „Ausgerechnet Alaska“ (RTL), „Picket Fences“ (Sat.1) und „Strange Luck“ (Pro 7), seien es gediegene Eigen- oder Koproduktionen wie „Kommissar Beck“ (RTL/Vox), „Bruder Esel“ (RTL) und „Stockinger“ (Sat.1). Allein Hera Lind drückt unbekümmert auf die Tube.

MODERATOREN – Werden nach wie vor gern en gros eingekauft. Später weiß man nicht wohin mit ihnen und schickt sie in die weite Welt hinaus. Siehe Fritz Egner, Herbert Feuerstein, Dieter Moor et al. Nur Hera Lind bleibt im Lande, dampft aber ausgleichshalber von Sender zu Sender.

NULLZEIT – Volle Stunde, volles Programm – leere Ränge.

OLLE KAMELLEN – Die Jungen staunten und die Alten wunderten sich, da im Zuge postmoderner Bildschirmunterhaltung von „Laß Dich überraschen“ und „Dalli Dalli“ über diverse „Vorsicht, Kamera“-Aufgüsse bis hin zu „Showlympia“ einige bereits tüchtig ausgelutschte Kamellen erneut feilgeboten wurden.

Selbst abgehalfterte Zugpferde wie Heinz Schenk und Hans-Joachim Kulenkampff stellten sich noch einmal einem Sehtest, letzterer immerhin unter Ausschluß der Zuschauer. Es ist nun mal so: Hera Lind kann, trotz größten Strebens, beileibe nicht alles alleine bewältigen.

PÜNKTLICHKEIT – ...ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. So lautet mutmaßlich die heimliche Maxime der Bildschirmherren von RTL, Sat.1, RTL 2 und ihren Spießgesellen. Wiederholt wurden Sendungen der Genannten zum vorher annoncierten Zeitpunkt eingeschaltet, nur um bekümmert feststellen zu müssen, daß man bereits etliche Meter Bildstrecke versäumt hatte. Auch VPS- und Showview-Markierungen werden nach wie vor reinweg willkürlich in die Programmlandschaft gestreut.

QUASSELSTRIPPE – Drei Stunden Sendezeit reichen der Schreinemakers einfach nicht. Massiv drückt und drängelt sie sich auch noch in Nachrichtensendungen und Magazine hinein. Ein Anruf bei der Steuerfahndung – schon ist sie wieder im Gespräch.

REDESCHAUEN, TÄGLICHE – Vulgo: Daily Talks. Darf man gucken. Barbara Sichtermann hat's genehmigt. Es stand zwar schon bei Angela Keppler (Wirklicher als die Wirklichkeit?, Frankfurt/M. 1994), empirisch grundiert und haarklein erklärt, aber die Herde der Multiplikatoren braucht ein namhaftes Leittier. Selbst Hera Lind gilt nicht länger als tabu.

SET-TOP-BOX – Goldenes Kalb oder Trojanisches Pferd – wer vermöchte es zu sagen?

TRADITIONSBEWUSSTSEIN – Einige Programmanbieter mißbrauchen deutsche Landschaften als Hintergrund schnöder Kriminalserien. Anders die ARD: Sie erwarb für 12 Millionen Mark 24 in der Dose gereifte Perlen deutscher Heimatfilmkunst aus einer Zeit, in der die Wälder noch ewig zu rauschen versprachen. Da greift die Jugend lieber zum guten Buch. Vorzugsweise einem von Hera Lind.

UNFALLSTATISTIK – Wird von Jahr zu Jahr länger, dank immer neuer Ärzte- zuzüglich Autobahnpolizei- (RTL) und Feuerlöscherserien (ZDF). Nicht zu vergessen die besonders gefahrenreiche „Lindenstraße“ (ARD).

VOLKSAUFSTAND – Eine Anmutung, welcher Taten die Jugend fähig wäre, gab es beim langen Abschied von Take That in „Wetten, daß ...“. Wehe, wenn die eines Tages Ernst machen – zum Beispiel im Falle eines Wiedereinreiseverbots für die Kelly Family oder anderer Sanktionen wider die Kellyology-Sekte ...

WETTERBERICHT – Was für ein Gedöns: Computergrafiken, Satellitenbilder, Tiefflugsimulationen. Wie gern hätte man die alte Wetterkarte zurück mit ihren einleuchtenden Symbolen, nüchternen Zahlen und bündigen Vorhersagen.

XXL – Laßt dicke Männer um mich sein, kursierte als Erfolgsrezept unter deutschen Programmdirektoren. Sat.1 fütterte den strammen Strack und den feisten Fischer durch, das ZDF beköstigte den kapitalen Coltrane nebst Dieter Pfaff, der zudem bei RTL Raum griff. Die wie stets ein wenig verspätete ARD versucht gleichzuziehen und mästet gegenwärtig Jochen Senf. Im kommenden Jahr soll das ideale Kampfgewicht erreicht sein.

YELLOW PRESS-LUFT – Da RTL 2 zagte und zurückschreckte und Claudia Schiffers Zelebritätenchose „Close up“ nach elegant vergeigtem Auftakt eilig aus dem Programm schnippte, sprang die ARD mutwillig in die Bresche. Man sandte die bereits jahrelang in der „NDR Talkshow“ mopsig sich plusternde, als peinlich liebedienerisch und ressentimentgesteuert auffällig gewordene Alida Gundlach über Land, mehr oder minder prominenten Menschen zwecks Hofberichterstattung nahezutreten. Zumindest eine Person amüsiert sich köstlich: Alida Gundlach. Was aber leider nicht abendfüllend ist. Im direkten Vergleich erscheint selbst Hera Lind um einiges aufgeweckter.

ZDF – Trutzburg im Mainzerischen, herrlich weltabgeschieden und noch weitgehend unberührt von der hektischen Betriebsamkeit der Metropolen. Hier reifen Programme in Jahrhunderte alten Eichenschubladen in aller Ruhe bis zu ihrer höchsten Vollendung. Wer einmal „Jede Menge Leben“ oder „Tacheles“ probiert hat, erkennt auf Anhieb den Unterschied.