Wenn Bakterien die Schlösser tauschen

Durch übermäßigen Gebrauch verlieren viele Antibiotika ihre heilende Wirkung  ■ Von Wiebke Rögener

Antibiotika, zunächst als segensreiche Hilfe gegen Infektionen bekannt geworden, machen immer häufiger negative Schlagzeilen: als gesundheitsschädliche Zusätze im Viehfutter oder überflüssigerweise bei Bagatellerkrankungen verordnet, haben sie viel von ihrer Wirksamkeit eingebüßt. Aufsehen erregte kürzlich der Fall des Schauspielers Günter Strack, der einer Infektion mit antibiotikaresistenten Erregern fast erlegen wäre. Weniger prominente Kranke verschwinden in der Statistik: Die Zahl der Krankenhausinfektionen, bei denen gefährliche mehrfachresistente Keime besonders häufig sind, wird in Deutschland auf bis zu eine Million im Jahr geschätzt. Untersuchungen in den USA zufolge verursachen antibiotikaresistente Erreger dort mehr als vier Milliarden Dollar zusätzliche Kosten jährlich.

Die Wissenschaftler um Joseph Puglisi von der University of California, Santa Cruz, wollten es genauer wissen: Wie funktioniert so ein Antibiotikum auf molekularer Ebene? Warum tötet es Bakterien, nicht aber menschliche Zellen? Untersucht wurden die Probleme am Beispiel des Aminoglycosids Paromomycin. Zu dieser Gruppe von Antibiotika gehörende so wichtige – und zunehmend von Resistenz betroffene – Medikamente wie Gentamycin, Kanamycin oder das bereits weitgehend unwirksam gewordene Streptomycin.

Aminoglycosid-Antibiotika binden an die Ribosomen von Bakterien, also die Orte, an denen die in der bakteriellen Erbsubstanz angelegten Informationen in die Synthese von Proteinen übersetzt werden. Mittels nuklearer Magnetresonanz-Spektroskopie, einem Verfahren, das eine Art Röntgenbild großer Moleküle liefert und Auskunft über die Position einzelner Atome darin gibt, stellten die Wissenschaftler fest: Just an der Stelle, an der einzelne Aminosäuren in festgelegter Reihenfolge zu einem Eiweiß zusammengefügt werden, lagert sich das Antibiotikum an. Im Ribosom besteht hier eine taschenförmige Vertiefung, in die das L-förmige Aminoglycosid- Molekül genau hinein paßt. Es verklebt dann mit dieser Bindungsstelle und beeinträchtigt dadurch die Proteinsynthese. Die gebildeten Bakterienproteine sind nicht mehr funktionsfähig.

Die Ribosomen höherer Organismen, also auch menschlicher Zellen, weisen eine ähnliche Tasche auf. Nur in einem Punkt unterscheiden sich die Strukturen: Der Baustein Adenin des Bakterienribosoms ist bei höheren Organismen an einer Stelle durch Guanin ersetzt. Durch diese geringfügige Veränderung binden die Aminoglycoside mit 10- bis 15mal geringerer Wahrscheinlichkeit. Immerhin tun sie es in einem gewissen Maße – die Folgen sind zum Beispiel Taubheit oder Nierenschäden als gefürchtete Nebenwirkungen. Wirksam sind solche Antibiotika also, wenn sie zur Vertiefung im Bakterienribosom passen wie der Schlüssel ins Schloß, um ein beliebtes Bild der Molekularbiologen zu gebrauchen.

Zwei Mechanismen können diese Blockade aufheben: Resistent gegen Aminoglycosid-Antibiotika sind Erreger, die eine abweichende Form der Bindungsstelle im Ribosom aufweisen und solche, die fähig sind, die Struktur des Antibiotikums zu verändern. Bakterien können also entweder die Schlösser austauschen oder den Schlüssel verbiegen. In beiden Fällen sind Enzyme die Werkzeuge, die beispielsweise eine Methylgruppe an das Ribosom anlagern oder das Antibiotikum durch eine Acetylgruppe modifizieren. Die Gene für solche Enzyme liegen auf Plasmiden, kleinen Abschnitten des Erbmaterials, die die Bakterien freigiebig untereinander austauschen. Tritt einmal eine solche für die Bakterien vorteilhafte Mutation auf, greift die Resistenz daher rasch um sich. Die Wissenschaftler hoffen nun, durch die genaue Kenntnis der Wechselwirkung von Ribosom und Antibiotikum zur Entwicklung neuer, maßgeschneiderter Medikamente beizutragen.

Das Interesse der Pharmaindustrie ist den Forschern gewiß. Intelligentes Design von Medikamenten heißt das Stichwort. Dieser Ansatz geht davon aus, daß zu jeder in ihrer dreidimensionalen Struktur bekannten Bindungsstelle passende Schlüssel angefertigt werden können. Das Wissenschaftsmagazin Nature widmete dieser Entwicklungsrichtung vor kurzem ein ganzes Sonderheft – gesponsert von der Pharma-Firma Glaxo Wellcome. Neben optimistischen Einschätzungen der neuen Möglichkeiten finden sich auch vorsichtige kritische Anmerkungen. So weist Gregory Petsko von der Brandeis University in Massachusetts darauf hin, daß fast alle heute eingesetzten Medikamente von natürlichen Produkten abgeleitet sind. Die Natur sei auch weiterhin das größte Reservoir bisher unbekannter Moleküle und damit auch potentieller pharmazeutischer Wirkstoffe. Wer den Rückgang der Artenvielfalt durch Umweltzerstörung tatenlos hinnimmt, handele „unglaublich kurzsichtig“.

Neue Medikamente erhoffen sich die Wissenschaftler durch die gezielte chemische Variation natürlich vorkommender Moleküle, durch ihre Reduktion auf kleinere, wirksame Einheiten oder die Nachahmung solcher Strukturen durch synthetische Substanzen. Ob aber solche Designerdrogen auf Dauer eine wirksame Strategie gegen die Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen sind, muß sich erst noch erweisen. Wenn die Antibiotika der neuen Generation ebenso mißbräuchlich eingesetzt werden wie ihre altbekannten Vorläufer, besteht wenig Grund zu der Annahme, daß die Bakterien sich ihrer nicht zu erwehren wüßten.