■ Ein Jahresenddrama
: Zieh ab und heul nich'!

Der Mann: (sieht nervös auf die Uhr) Das zieht sich!Jedes Jahr dasselbe Drama.

Das alte Jahr: (ein vierzehnjähriges Mädchen kommt herein und singt dabei ein Lied von Milva) Ich mag dich, weil du klug und zähähärtlich bist, doch das ist es nicht allahiin, du zeigst mir immer, daß es möhöhöhglich ist, ganz Frau und trotzdem frei zu sein ... (stutzt) Was sind das für Koffer?

Der Mann: (spielt den Zerstreuten) Koffer? Was denn für Koffer?

Das alte Jahr: (betrachtet ihn stumm)

Der Mann: (gibt die Heuchelei notgedrungen auf) Ach ja – die Koffer. Das sind dann wohl, äääh, deine Koffer.

Das alte Jahr: (irritiert) Ich verstehe nicht...

Der Mann: (schlagartig grob werdend) Was gibt es daran denn nicht zu verstehen? Das sind DEINE KOFFER. (Er sieht auf den Boden) Zieh deinen Mantel an, Schatz. Der Wagen muß jede Minute hier sein.

Das alte Jahr: (konsterniert) Mantel? Wagen?

Der Mann: Das Taxi natürlich. DEIN Taxi. Es ist Zeit. Komm, mach hinne!

Das alte Jahr: (langsam begreifend) Aber ... aber ... wir wollten doch zusammen Silvester feiern. Und jetzt soll ich weg...?

Der Mann: (roh) Weg. Genau. Du mußt weg.

Das alte Jahr: (Tränen in den Augen) Aber warum? Es war doch alles so schön...

Der Mann: (lacht böse) Ja genau: WAR! Als du jung warst! (schwelgt in Erinnerungen) Jaah, schön warst du! Hmmmh! Dieser Teint! Diese zarte Haut! (bremst sich) Aber jetzt – sieh dich doch an! (röchelt kinskiesk) Alt bist du geworden, alt und schlaff! (brutal) Bwaah!

Das alte Jahr: (schluchzt leise und sehr, sehr ergreifend)

Der Mann: (steht stulle und fies herum) Los! Komm in Schweiß! Komm in die Puschen! Zieh endlich ab und heul nich'! Ich hab' schließlich nicht das ganze Jahr Zeit. (Er lacht wieder boshaft)

Plötzlich schrillt die Klingel. Der Mann öffnet. In der Tür steht der Taxifahrer. Es ist Wolfgang Gruner. Hinter ihm steht, kaum bekleidet und entsprechend blaugefroren, das neue Jahr, ein höchstens 13jähriges Mädchen.

Taxifahrer: (jovial) Na, juten Abend, Herr Jürgens. (lacht meckernd) Hähä. Detselbe wie jedet Jahr, wa. (Er beginnt, die Koffer zum Taxi zu tragen: In der Tür wendet er sich zum alten Jahr.) Nu kommse schon, Mütterchen. Nich traurich sein. Det lohnt sich jarnich. So ist det nu mal. Det is ne men's men's men's world hier, wa.

Der Mann: (trägt das neue Jahr in seinen Armen über die Schwelle und singt) Dreizehn Jahr, neues Jahr, so stehst du vor mir...

Der Taxifahrer: (hat alle Koffer verstaut, zum alten Jahr) Wo kann ick denn hier mal mein Wildwasser abschlagen? (zwinkert vertraulich und geht ins Bad)

Der Mann: (schwenkt und singt noch immer) La la la laaa ...

Der Taxifahrer: (kehrt ins Zimmer zurück und zieht sich langsam die Wolfgang-Gruner-Maske vom Gesicht. Man sieht Geena Davis. Sie zieht eine 45er Magnum und schießt den Mann in den Kopf.)

Der Mann: Äärrrh...

Geena Davis: (packt sich das alte und das neue Jahr unter die Arme, bringt sie zum Taxi und fährt mit ihnen davon.) Die Jagdtrophäen an den Wänden singen: She's the high-riding woman with a whip... ENDE Wiglaf Droste

Die Personen: Das alte Jahr, das neue Jahr, der Mann, der Taxifahrer

Silvester abend, kurz vor Mitternacht. Eine Jagdhütte in den Schweizer Bergen. An den Wänden Jagdtrophäen, im Kamin ein prasselndes Feuer. Rumoren aus einem Nebenraum. Der Mann, ein viel zu jugendlich gekleideter Mittsechziger, in jeder Hand einen Koffer, ächzt ins Zimmer.