Leben, wie man sich's vorstellt

Helmut Rabus hat 80 Leitzordner. Da steht drin, was es über den VfB Stuttgart zu wissen gibt. Doch eigentlich braucht Rabus sie nicht: Er hat alles im Kopf  ■ Von Klaus Wittmann

Memmingerberg (taz) – Helmut Rabus hat eine Junggesellenwohnung. Darin stehen 80 Leitzordner. Es handelt sich um ein Bundesligaarchiv, um das ihn manche renommierte Sportredaktion beneiden müßte. Aber Rabus hat das Wissen nicht nur in Ordnern gesammelt, er hat es auch im Kopf. Insbesondere was den VfB Stuttgart angeht, gibt es nichts, was er nicht weiß. Heißt es.

Ein Dorffußballplatz im Allgäu. Helmut Rabus (37) steht mittendrin. Er hat nicht eine Unterlage zur Hand, sondern stellt sich freiweg den Testfragen. Frage eins ist zum Aufwärmen: Wie lief es in der Saison 1981/82 für den VfB? „Ganz schlecht“, sagt Rabus. „Es war ein Graus, wir dümpelten im Mittelmaß.“ Sehr wahr. Weiterführende Zusatzfrage: Wie hat der VfB in dieser Saison gegen den „Club“ gespielt? „In Nürnberg 0:0, zu Hause 1:2 verloren, Eigentor in der 90. Minute!“ Eigentor? In Nachschlagewerken wird das Tor dem Nürnberger Stürmer Werner Dressel gutgeschrieben. „Ich erinnere mich genau“, sagt Rabus, „es war ein Preßschlag auf der Torlinie zwischen Hadewicz und Szatmari. Dressel kam noch dazu. Kann sein, daß es dem gutgeschrieben wurde.“ Er ist aber sicher, daß es ein Eigentor war.

Eine neue Frage: Wie lief es 1979? Die Antwort kommt postwendend: „Da hat's auch nicht viel besser ausgesehen! Vor allem im Herbst – nach dem Wechsel von Erfolgstrainer Jürgen Sundermann zu Lothar Buchmann – gab es gleich Niederlagen in Folge.“ Fragt sich natürlich, gegen wen? Rabus ist schon beim Antworten: „Dortmund, Düsseldorf und Bochum. In der Rückrunde wurde es dann wieder besser und der VfB hat doch noch Platz drei erreicht.“

Angefangen hat alles 1977. Seither ist Helmut Rabus nahezu jeden Samstag auf einem Fußballplatz gewesen. Er ist ein waschechter Allgäuer, wohnhaft in Memmingerberg bei Memmingen. Dennoch gibt es kaum ein Heimspiel des VfB, das er verpaßt hat. Und nach Stuttgart sind es immerhin 150 Kilometer hin und 150 zurück. Als er noch Student war, malochte er auf dem Bau, um Geld für Eintrittskarten und Fahrtkosten zu verdienen. 1973 sah er sein erstes Fußballspiel – ein 6:1 des VfB gegen Borussia Mönchengladbach. Da war er 14. „Ein Riesenerlebnis“. Endgültig brach dann die Leidenschaft 1977/78 aus. Da ist der „Kaktus“, wie ihn seine Freunde in Memmingerberg nennen, mit einigen Kumpels hochgefahren zum Schalke-Spiel. Und die Atmosphäre im Parkstadion war einfach hinreißend. Fortan war für ihn klar, wo er seinen Urlaub verbringt: in den Stadien dieser Republik, mit besonderer Vorliebe im Ruhrgebiet. „Ich mag diese Stimmung, das 0,2-Liter-Pils am Tresen, die Stadien, wo du ganz nah dran bist, und ich mag die Leute“, sagt er. „Außerdem leben sie Fußball noch so, wie man sich's vorstellt.“

Abends sitzt Rabus oft stundenlang vor seinem Archiv und blättert in den Zeitungsausschnitten und Notizen. Immer wieder fragen lokale Sportjournalisten in strittigen Fragen bei ihm nach. Sie wissen: „Kaktus weiß alles.“

Zweite Fragerunde: Februar 1985? „Da hat der VfB gegen Kaiserslautern 5:0 gespielt. Gegen Braunschweig gab es dann freilich eine Niederlage.“ September 1987? „Das war insgesamt eine gute Saison. Unter Arie Haan hatten wir einen großartigen Start hingelegt.“

Was war Rabus' schönstes Fußballerlebnis? Wieder zögert er nicht. „Der 3:0-Sieg gegen Bayern am 14. November 1987. Damals hat Klinsmann diesen sensationellen Fallrückzieher geschossen, der dann zum Tor des Jahres gewählt wurde.“

Er ist einfach nicht zu überlisten, steht da auf diesem Dorffußballplatz – und weiß alles. Er kann nirgendwo mehr hin, ohne getestet zu werden. Bei so mancher Feier wird der Kaktus ausgefragt. Und dann unter Jubel in seiner Eigenschaft als „VfB-Gott“ bestätigt. Seine Schüler an der Kaufbeurer Berufsschule haben es natürlich längst mitbekommen. Wenn er am Montagmorgen ins Klassenzimmer kommt, hört er nicht selten: „Keine Angst, der VfB hat gewonnen, heute kann uns nichts passieren.“ Am Montag schleppt Rabus immer besonders viele Zeitungen mit sich herum. Daß er immer wieder auf die Probe gestellt, daß er auch immer mal gehänselt wird, das macht ihm nichts aus. Angeblich macht ihm auch nichts aus, daß er Junggeselle geblieben ist. „Für so einen Spleen hat doch keine Frau Verständnis“, sagt er achselzuckend.

Sein Gedächtnis kommt ihm auch im Beruf zugute. Rabus muß sich so gut wie nichts notieren. In der Winterpause wird das Archiv aktualisiert. Einmal mehr. So erfreut wie schon lange nicht mehr lehnt sich Helmut Rabus zurück, träumt ein klein wenig von dieser bislang so glorreichen Saison und von der insgeheim doch so sehnsüchtig erhofften Meisterschaft – endlich mal wieder! „Heuer könnten sie es schaffen“, sagt er. Schon jetzt ist klar, daß er am 22. Februar seine Dauerkarte nehmen und zum ersten Rückrunden-Heimspiel gegen den Karlsruher SC nach Stuttgart brausen wird.

Rabus ist übrigens auch im Besitz einer Eintrittskartensammlung. Fast vierhundert Bundesligaspiele hat er hinter sich. Einen Ehrenplatz aber wird jene Eintrittskarte bekommen, von der der Kaktus seit langem träumt: Die vom ersten Auswärtssieg des VfB in der Champions League.