Der Freak als Übermensch

Die archaische Freude an Freaks und Monstern ist nicht so einfach zu vertreiben  ■ Von Michael Rutschky

Anders als wir hat sich bekanntlich die alte Welt an Freaks und Monstern herzlich erfreut. Auf Jahrmärkten durfte bestaunt werden, was irgend Körpermonstrositäten zu bieten hatte; der Hofzwerg stand für Hohn und Spott – aber auch die großzügigen Geschenke – der höfischen Gesellschaft zur Verfügung. Was augenscheinlich nicht dem Ebenbild Gottes entsprach, hatte darunter zu leiden, konnte damit aber auch seinen Lebensunterhalt verdienen.

Wir machen das anders. Dem Kind, das in der U-Bahn sich an dem gräßlich zuckenden Spastiker nicht sattsehen kann, wird von der Mutter leise und streng verwiesen. Im Sommer sind in vielen Freibädern unserer Städte an jungen Männern aus Bosnien oder Ruanda wieder schwere Kriegsverletzungen zu besichtigen – besser, du schaust vorbei.

Beifallklatschen verboten

Die Perfektionierung des Rollstuhls erlaubt es Wesen, die früher strikt ans Bett gefesselt waren, durch die Fußgängerzone zu kreuzen, und der Zuschauer darf nicht einmal, wie er möchte, Beifall klatschen angesichts der Virtuosität, mit der da einer über den Mundwinkel sein Fahrgerät steuert, weil dort der letzte Rest Körperbeherrschung sitzt, der ihm verblieb.

Keiner soll draußen bleiben, alle gehören zur Menschheit. Allenfalls könnten wir uns darüber unterhalten, ob die rauszuschmeißen wären, die wegen anderer Hautfarbe oder Körperbeschaffenheit so ein Gewese machen. Glatzen raus. Oder auch Peter Singer raus: das ist der australische Philosoph, der, wie jeder zu wissen vermeint, für Behinderte die Euthanasie wieder einführen will.

Aber die archaische Freude an Freaks und Monstern ist so einfach nicht zu vertreiben, und so mußte sich die moderne Welt etwas einfallen lassen, damit sie an dieser Freude weiterhin teilhaben kann.

Der Trick ist genial: Wir erklären die Freaks, die Behinderten und Benachteiligten, denen ein böses Schicksal oder eine medizinische Fehldiagnose oder eine unbeeinflußbare Laune der Physiologie die schwere Einschränkung der körperlichen oder geistigen Bewegungsfreiheit eingetragen hat – wir erklären sie einfach zu Trägern einer höheren Wahrheit und Weisheit.

Dies Schema der Umwertung hat sich auch anderswo bewährt: So führte der russische Schriftsteller Dostojewski mit der Hure Sonja den wahren Engel in seinen Roman „Schuld und Sühne“ ein. Der bürgerliche Leser des 19. Jahrhunderts darf mit einer Hure Umgang haben und sich eben dadurch moralisch erhöht fühlen.

Was Freaks angeht, so feiert gerade unsere Gegenwart nach diesem Schema wahre Orgien. Die siamesischen Zwillinge bei Schreinemakers, die so kompliziert miteinander verwachsen waren, daß ausführliches Hinsehen schon deshalb erforderlich war, um die Verschachtelung einigermaßen zu klären, während die Moderatorin ausgiebig damit beschäftigt war, das monströse Doppelwesen als ganz normal, als zwei Menschen wie du und ich zu präsentieren: Seitdem weiß jeder, daß „Schreinemakers live“ insgesamt eine Freakshow ist, wo wir – wie auf dem Jahrmarkt – Monstrositäten bestaunen und uns gesagt sein lassen dürfen, daß sie eigentlich gar keine sind, sondern Menschen wie du und ich. Was das Kino angeht, so ehren die Kenner seit langem in Todd Brownings „Freaks“ von 1932 ein Meisterwerk, das nach dem beschriebenen Schema die Benachteiligten zu Bevorzugten macht. Freilich war Metro-Goldwyn-Mayer die Sache seinerzeit viel zu skandalös; erst seit den Sechzigern fand der Film sein Publikum, das die Mischung aus archaischer Schaulust und moralischer Erhebung zu goutieren wußte.

Der Benachteiligte als Bevorzugter

Todd Brownings Freaks waren echt. Von David Bennent in Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Blechtrommel“ (1979) wurde gleich miterzählt, daß er irgendeiner rätselhaften Wachstumshemmung unterlag – seitdem begleitet ihn ein ebenso respektvolles wie indiskretes Interesse, was er an Körpergröße noch dazugewonnen hat.

Schon die literarische Figur Oskar Matzerath lebte von dem Schema, daß der Freak tiefere Einsichten in die Zeitläufte besitze als der Normalo.

Dagegen war Jim Sheridans „My Left Foot“ von 1989 vor allem ein schauspielerisches Bravourstück für Daniel Day-Lewis. Der Zuschauer wurde weniger mit der archaischen Freude am Freak befaßt als mit der ästhetischen Freude an souveräner Schauspielerei. Wenn man so will: behindertenfeindlich. Denn Daniel Day- Lewis zeigte mit Virtuosität, was einer, der ihn perfekt beherrscht, mit seinem Körper alles anstellen kann.

Schauspielkunst gab es auch an Dustin Hoffman zu bewundern, in Barry Levinsons „Rain Man“ von 1988; und hier war der autistisch beschränkte Mensch auch drastisch als Lehrmittel eingesetzt für den Schlaumeier Tom Cruise, der bloß an das Geld ran will und eine Lektion über Menschenwürde zu absolvieren hat.

Wie gesagt: Der Benachteiligte genießt gegenüber dem Normalo unschätzbare Vorteile, ein höheres Menschentum, wie wir, die Zuschauer, uns gern gesagt sein lassen. Und jetzt, in „Am achten Tag“ von Jaco Van Dormael, also wieder (wie bei Todd Browning) ein Echtmensch, aber von Mongolismus respektive dem Down-Syndrom – jede Kränkung der Mongolen ist strikt zu vermeiden – geschädigt. Daniel Auteuil, als europäisch-depressive Ausgabe des amerikanisch-geschäftstüchtigen Tom Cruise, begegnet in der Gestalt des Freaks dem moralisch und menschlich Höheren, man möchte meinen: dem Heiligen, eine Begegnung, die ihn verwandelt.

Was die Nazis zum Untermenschen erklärten, der als lebensunwertes Leben zu beseitigen ist, entpuppt sich als der Übermensch, der den Dingen des Lebens näher ist als der gequält-angepaßte Bürger. Haben wir uns damit weit genug entfernt von der höfischen Gesellschaft, die mit dem Hofzwerg ihre sadistischen Späße trieb, von den skurrilen Jahrmärkten, auf denen das sogenannte Volk den Freak bestaunte? Die moderne Welt hat das Vergnügen keineswegs ganz aufgegeben, sondern durch ein kompliziertes moralische Alibi verfeinert.

Einerseits die archaische Schaulust an der Abweichung; andererseits der Genuß des Wohlwollens, den der Freak aufgrund seiner Rolle erweckt: Vorbild und Lehrmittel für den angepaßten Normalo. Du darfst Übermensch und Untermensch zugleich sein und dich der Sympathie erfreuen, mit der du dem Freak auf der Leinwand zuschaust.