AUFBRUCH ZUM UMBRUCH

■ Knapp 15 Jahre nach der Rio-Konferenz ist die nachhaltige Entwicklung längst Wirklichkeit geworden

Rio 1992. Auf der UN-Jahreskonferenz für Umwelt und Entwicklung beschließt die internationale Staatengemeinschaft Großes: Sie will den Selbstzerstörungsprozeß der Biosphäre stoppen, Hunger und Armut beseitigen und die Nutzung von Naturressourcen gerechter zwischen den Menschen verteilen. Nahezu einhellig stimmen die Teilnehmerstaaten der Agenda 21 zu, jenen Leitperspektiven für eine zukunftsfähige Entwicklung aller Menschen. Und doch: In der Praxis findet all das zumnächst wenig Beachtung. Noch 1996 glauben die Industrieländer, ihren Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen pro Kopf im Verhältnis zu den Entwicklungsländern von durchschnittlich 45:1 fortsetzen zu können. Noch immer wollen die Menschen in den Industrieländern nicht begreifen, daß ihre Lebensqualität selbst nach UN- und Weltbankindex schon seit 1976 ständig abnimmt. Der ökonomische Raubbau dominiert, der Glauben an wirtschaftliches Wachstum ebenso. Nur wenige Länder folgen dem UN-Auftrag, umsetzungsfähige Leitkonzepte zu entwickeln, damit Lebens- und Produktionsgrundlagen und der soziale Frieden erhalten werden können.

Die Zeiten sind vorbei. Mittlerweile hat der Prozeß nach Rio eine enorme Dynamik entwickelt. Heute, im Jahre 2006, hat er selbst festgefügte Strukturen in der politischen Verwaltung und in Wirtschaftsunternehmen aufgebrochen. Aber genaue Beobachter konnten schon 1996 sehen, daß eine Lawine des Auf- und Umbruchs in Gang kam. In Schweden arbeiteten 1996 bereits mehr als 90 Prozent, in Großbritannnien, Dänemark und den Niederlanden mehr als 40 Prozent aller Kommunen an ihrer Lokalen Agenda 21. In Deutschland hatten zwar nur vier Prozent aller Städte und Gemeinden ihre Lokale Agenda 21 bis zum Jahr 1996 konzipiert und den Umsetzungsprozeß eingeleitet. Doch diese waren sehr aktiv. In den folgenden Jahren rissen sie alle anderen mit. Zumal sich die Lage verschärfte. Massenarbeitslosigkeit, Umweltdesaster, soziale Ungerechtigkeiten und Verelendungsprozesse beschleunigten die Entwicklung und führten viele Menschen über Partei- und Verbandsgrenzen hinweg zusammen.

ZINSEN DER NATUR

Sie wollten die Weichen für eine bessere Zukunft stellen: Ziel war eine ökologisch und sozial verträgliche Ökonomie und eine gerechtere Verteilung von Arbeit und Einkommen. In der Zukunft sollte endlich so produziert und konsumiert werden, daß das lebensnotwendige Kapital der Erde auch für die nachfolgenden Generationen erhalten bliebe. Kurz, die Menschen wollten wieder zukunftsfähig werden, von den Zinsen der Natur und der menschlichen Kreativität leben.

Die trägen politischen Apparate beschlossen die längst fällige aufkommensneutrale Ökosteuer, sie reduzierten die vielen Privilegien der Beamten und verabschiedeten zahlreiche Verordnungen zur Umsetzung der Kreislaufwirtschaft. Die Einnahmen aus der Ressourcesteuer stiegen Jahr für Jahr. Dafür förderte der Staat solarthermische und photovoltaische Anlagen und Energiespeichertechniken, ökologische und solare Bauweisen und schadstofffreie Produkte. Die Verbraucherorganisationen erhielten jedes Jahr zwanzig Prozent mehr Mittel, um die Bürger über die Vorteile von ökologischen Produkten, ökoeffizente Dienstleistungen, Leasing, Sharing- und Poolingkonzepte informieren zu können. Schon heute, im Jahr 2006, kann sich kaum noch jemand vorstellen, daß die Menschen früher dachten, man müsse alle Produkte selbst besitzen. Wozu? Schließlich kann man sie doch erheblich kostengünstiger mit gleichem Nutzen leihen, warten und gemeinsam verwenden.

Das Wichtigste aber ist: Industrie, Gewerbe und Dienstleister haben das neue Wettbewerbsmuster um die ökologisch besten Produkte und Dienstleistungen voll angenommen. Die Werbebranche verdient mit den neuen Werbekonzepten gut. Sicher, aus heutiger Sicht ist das gar nicht mehr so sensationell. Schließlich liefern die meisten positiven ökologischen Bilanzen auch ökonomisch bessere Ergebnisse. Denn die lebenswichtigen Produkte und die Bodenschätze sind teurer geworden; wer Wasser, Boden, Luft belastet, muß mehr bezahlen, sein Produkt kostet mehr. So spiegeln die Preise viel genauer die ökologische, ökonomische und soziale Wahrheit wider als vor zehn Jahren.

Endlich hat auch der Wettbewerb zwischen den dezentralen rationellen und regenerativen Energietechniken und den alten zentralen fossilen und nuklearen Energieversorgungssystemen faire Züge angenommen, endlich haben auch öffentliche Mobilitätsdienstleistungen größere Chancen, mit dem Auto zu konkurrieren. Der Trend zur Globalisierung von Wirtschaft, technischen Systemen, Handel und der Beschäftigung hält zwar an. Doch die großen Energie-, Verkehrs- und Handelsmonopole beginnen durch die nachhaltige Ökonomie zu wanken. Und allmählich setzt sich die soziale Marktwirtschaft auch in diesen Bereichen durch. Rolf Kreibich

Prof. Kreibich ist Zukunftsforscher am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin