BOSSI GEGEN KLEINSTAATEREI

EU heute: 38 Mitglieder, 168 Dialekte, Dauerstreit über Rechte der Bezirke  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Zum Abschluß der padanischen EU-Präsidentschaft hat ausgerechnet der Turiner Regierungschef Umberto Bossi gestern eine gemeinsame Initiative mit dem tschechischen Präsidenten Václav Klaus und dem bayerischen Kanzler Edmund Stoiber gegen die Kleinstaaterei angekündigt. Es sei nicht länger hinzunehmen, daß die Bezirksregierungen „auf dem Umweg über Brüssel die nationalstaatlichen Kompetenzen aushöhlen“.

Die seit April schwelende Auseinandersetzung um die Verteilung der innenpolitischen Zuständigkeiten war auf dem Turiner EU-Gipfel vom 12. bis 22. Dezember 2006 in offenen Streit umgeschlagen. EU-Raumordnungskommissarin Renate Schmidt hatte in einem Weißbuch zur Zukunft der Mittelgebirgsräume in der EU das Recht der Bezirke hervorgehoben, ihre innenpolitischen Angelegenheiten selbst zu regeln. Das in Artikel 3 des Maastricht-4- Vertrages verankerte „Selbstbestimmungsrecht aller Volksgruppen“ müsse auch von den Regierungen ernst genommen werden, die sich damals besonders dafür eingesetzt hätten.

Hintergrund der Auseinandersetzung um den Artikel 3 ist das Ausscheren von Bayern, Flandern, Padanien und Katalonien. Die vier Länder, die bereits ihren Austritt aus dem Euro-Währungsverbund verkündet haben, wollen die anstehende Harmonisierung der Justiz, die sie als Liberalisierung sehen, nicht mitmachen. Sie fürchten, die durch ihre Unabhängigkeit vor sieben Monaten gewonnenen Machtbefugnisse teilweise wieder zu verlieren. Sie sind jedoch in einer schwierigen Lage, weil sie selbst diesen Artikel 3 damals durchgesetzt haben, um damit ihre Unabhängigkeit vorzubereiten.

Vor allem der Regierungschef von Flämisch-Limburg, Willy Claes, und der Ministerpräsident der Oberpfalz, Theo Waigel, kämpfen um mehr Rechte für ihre Provinzen und berufen sich dabei auf diesen Artikel 3. Die EU- Kommission hat sich hinter die Forderungen der Bezirke gestellt. Sie sieht in einer demokratisch organisierten EU-Kammer der Bezirke die einzige Möglichkeit, die EU wieder handlungsfähig zu machen. Denn auf nationalstaatlicher Ebene scheint keine Einigung mehr möglich. Das einzige EU- Gesetz, das im abgelaufenen Jahr verabschiedet wurde, betrifft die Einführung eigener Fahrradspuren auf allen öffentlichen Parkplätzen sowie einer Fußgängerzone zwischen dem EU-Parlament und dem Ministerrat in Brüssel.

Durch die Aufnahme der drei mitteleuropäischen Länder Polen, Tschechien und Ungarn vor vier Jahren sowie die Unabhängigkeitserklärungen einzelner Regionen in diesem Jahr ist die Zahl der EU-Mitglieder inzwischen auf 38 angewachsen. Mähren hat angekündigt, sich spätestens Ende nächsten Jahres aus dem böhmisch dominierten Tschechien ausgliedern. Doch schon heute sind kaum noch Beschlüsse möglich, weil sich immer mindestens ein Land querstellt.

Die seit 1996 ergebnislos diskutierte Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen hat nach Ansicht politischer Beobachter in Brüssel keine Chance mehr. „Das wurde vor zehn Jahren versäumt“, klagte die finnische Präsidentin des Europaparlaments, Juhla Roihinen, in Turin, „jetzt geht nichts mehr.“ Sie kritisierte vor allem die Rheinpreussische Regierung in Berlin, die seit zwei Jahren ihren Betragszahlungen an die EU nicht mehr nachkommt. Berlin will damit die EU-Partner zwingen, den Beitragsschlüssel zu verändern, weil es nicht anginge, daß „das Land mit dem höchsten Subventionen auch noch die höchsten Lasten“ trage.

BAYERN FAST PLEITE

In der gesamten EU haben die staatlichen Beihilfen an Unternehmen auch in diesem Jahr wieder um 12 Prozent zugenommen, eine indirekte Folge des zehn Jahre andauernden Rechtsstreit Sachsens um die VW-Subventionen. Eine Reihe von Regierungen sind dem sächsischen Beispiel gefolgt, haben die Brüsseler Subventionsvorschriften ignoriert und ihren Unternehmen höhere Beihilfen gewährt. Einige Regierungen sind inzwischen pleite, Bayern steht kurz davor. Der bayerische Finanzminister gibt mittlerweile 30 Prozent seines Haushalts für den Schuldendienst des Stahlwerks Maxhütte aus. München will das Werk deshalb im nächsten Jahr schließen, hat jedoch den oberpfälzischen Ministerpräsidenten Waigel im Genick, der für diesen Fall den endgültigen Bruch mit Bayern angekündigt hat. „Wir können die Menschen in den strukturschwachen Gebieten nicht allein lassen“, begründet Waigel diesen Schritt.

Zwar hat auch Waigel kein Geld, aber er baut darauf, daß eine Rückkehr der Oberpfalz in die Euro-Zone der Maxhütte neue Märkte in Böhmen erschließen würde. Bereits Mitte 2006 hatte Waigel in einem Regensburger Bierzelt versucht, der Bevölkerung diesen unpopulären Schritt durch das Versprechen schmackhaft zu machen, daß er in einer autonomen Oberpfalz auch eine Justizreform durchführen werde. Nach ersten Umfragen scheint das Argument seine Wirkung nicht zu verfehlen. Vor allem die zunehmend mittelalterliche Auslegung des Abtreibungsparagraphen durch München hat in der vergleichsweise aufgeklärten Oberpfalz zu heftigen Protesten geführt.

EU-Raumordnungskommissarin Renate Schmidt, die 2001 in Bayern das Oppositionshandtuch warf und über das Europaparlament in die EU-Kommission gewählt wurde, hat Waigels Vorschlag sofort aufgegriffen. Auf einer Tagung der aus dem bayerischen Tutzing nach Bad Godesberg geflüchteten Evangelischen Akademie entwarf sie ihre Vorstellungen von einem föderal organisierten Europa der Bezirke. Sie möchte die Bezirke nicht zur Unabhängigkeit, sondern zur Autonomie auffordern. „Weitere selbständige Staaten würden nur die Zahl der zerstrittenen Staatschefs vergrößern“, so Schmidt, „ein Netzwerk autonomer Bezirke dagegen könnte Europa wieder zusammenbringen. Leute wie Stoiber würden ins Leere laufen.“

Wie viele von den 56 EU-Kommissaren hinter dem Plan stehen, soll nächste Woche bekanntgegeben werden, wenn die Übersetzungen der vorletzten Kommissionsitzung in alle 168 Dialekte vorliegen. Es scheint jedoch ein grundsätzliches Einverständnis zu geben, die Polizei auf Gemeindeebene neu zu organisieren, um die Blockade bei der Zusammenarbeit zu beenden, die durch die regionalen Rivalitäten entstanden sind. Die Gemeindepolizisten sollen dann durch EU-weit geschaltete Sonderleitungen im Internet Informationen austauschen. „Nur so“, wird ein hoher Beamter in Straßburg zitiert, „kann das Problem Europol gelöst werden.“

Die Anspielung zielt auf die seit drei Jahren im rechtsfreien Raum durch Europa marodierenden Europol-Einheiten. Nach jüngsten Schätzungen sollen zwei Drittel der 600 Europolizisten, die aufgrund der EU-Zahlungsprobleme oft monatelang auf ihr Gehalt warten, den Kontakt zur Zentrale in Den Haag abgebrochen haben. Allein aus dem Baskenland wurden 2005 fast 27 Europol-Überfälle auf Kühlhäuser gemeldet, in denen die EU BSE-verdächtiges Gänsefleisch lagert.