FROHLOCKENDE STEINMETZE

Seit dem Crash der Informationsgesellschaft üben einige schon wieder Keilschrift  ■ Von Klaus Kreimeier

Für die altersschwache Informationsgesellschaft brachte das nun zu Ende gehende Jahr 2006 den schon vor der Jahrtausendwende prophezeiten Zusammenbruch. Dennoch frohlocken die Steinmetze zu früh. Obwohl bereits in zahllosen Workshops in Kalifornien die Kunst der Keilschrift geübt wird, kann nicht die Rede davon sein, daß sich die führenden Medienkonzerne – ganz zu schweigen von den Bildungsinstitutionen oder gar den stets schwerfälligen zuständigen Ministerien – diesem neuesten Modernisierungsschub bereits angeschlossen hätten.

Das allgemeine Zögern angesichts der neuen Technologie ist ja auch verständlich. Noch immer hocken (und hacken) Millionen entrechteter, gesundheitlich beschädigter, von Krämpfen geschüttelter und zunehmend geistig verwirrter Individuen in aller Welt an ihren Computern und versuchen, ausgerechnet in jener Sackgasse, die einmal als „Internet“ gepriesen wurde, einen Ariadnefaden zu finden, der ihnen einen Ausweg aus ihrer hoffnungslosen Lage weisen könnte. Keine Rettungsaktion der Unesco erreicht sie mehr. Mit jedem www., das sie ihrer Tastatur eingeben, ziehen sich die Spinnweben um die armen Kreaturen fester zusammen; längst sind sie zu Mumien eines verrotteten technologischen Traums geworden.

Spätestens vor vier Jahren, als der „Super-Daten-Highway“ – wer erinnert sich noch an diesen antiquierten Begriff? – vollkommen verstopft war, hätte man über sinnvolle Alternativen nachdenken müssen. Statt dessen putschte Bill Gates gegen sich selbst, ging in seinen computergenerierten Urwald und gründete eine Guerilla zwecks Entwicklung obskurer Untergrundzugänge zu seinem eigenen Imperium. Bis die Sache aufflog, weil er sein Paßwort vergessen hatte. Interpol hielt seinen Verein – TCP-IP/ML – für eine kommunistische Zelle, dabei hätte man dort wissen müssen, daß „ML“ einfach „Mailing List“ heißt. So wurde die letzte Hoffnung auf eine Regeneration der Microsoft-World aus dem Geist ihres revolutionären Ursprungs zerschlagen, weil man sich in den Abkürzungen nicht mehr zurechtfand. Ein Umstand, an dem schon frühere Kulturen zugrunde gegangen sind.

Schon damals, also anno 2002, tauchte auf den Bildschirmen unter den FAQ (Frequently Asked Qestions) die Frage auf, warum man nicht zumindest in größeren Städten sogenannte FUPB einrichten könne – Frequently Used Post Boxes, in die man einfach seine handgeschriebenen Botschaften zwecks Weitertransport hineinwerfen könne. Zu diesem Zeitpunkt gab es immerhin noch recycelfähiges Papier – ein Produkt, das die heute Heranwachsenden nur noch vom Hörensagen kennen. Das Problem war nur: Die Telekom hatte das Postwesen schon zwei Jahre zuvor durch einen simplen Mausklick ausgeschaltet.

Die Telekom gibt es inzwischen, wie wir trauernd zur Kenntnis nehmen müssen, auch nicht mehr. Aber die guten Einfälle lagen damals sozusagen auf der Straße beziehungsweise auf dem bereits gefährlich wackelnden Daten-Highway. Sie wurden einfach nicht genutzt. Sie gingen unter im weltweiten Online-Chat oder in einer heute vollkommen unverständlichen Altertümlichkeit, die man in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts „Cyberspace“ nannte. Nur die gereifteren Jahrgänge unter unseren Lesern erinnern sich noch an diesen exotischen Begriff.

Oberflächliche Historiker halten die Katastrophe, die nun eingetreten ist, für ein reines Browser- Problem. Dabei hatten vermutlich die Leute recht, die vor etwa einem Jahrzehnt den Browser noch für eine virtuelle Duscheinrichtung gehalten haben. Die Prognosen, daß sich mit seiner Hilfe, also sozusagen Netscape-gestützt, in naher Zukunft eine globale Gehirnwäsche durchführen lasse, gingen allerdings zu weit. Als Bill Clinton just zur Jahrtausendwende, schon sichtlich vergreist, die HWWUSGBWS – Happy Worldwide US-Governed Brain Washed Society – ausrief, um seine dritte Amtsperiode zu rechtfertigen, war abzusehen, daß er scheitern würde, denn in den USA türmten sich bereits damals die Computer der nächsten fünf Generationen zu Schrottgebirgen. Die Technik hatte sich selbst überholt; sie war buchstäblich an ihren Hypertexten erstickt.

In Deutschland trug man zu dieser Zeit gerade die Spaßgesellschaft zu Grabe; fünf bibbernde Baseballmützen, mit umgedrehtem Genick, wurden hinter dem Sarg gesichtet – der Rest hatte sich schon bei den Lese-Workshops angemeldet.

In diesem Jahr nun überstürzten sich die Ereignisse und entwickelten eine Dynamik, die das Wrack der Informationsgesellschaft wie ehemals die „Titanic“ endgültig in die Tiefen riß. Prompt häufen sich – wie stets, wenn etwas schiefgegangen ist – die Schuldzuweisungen. Ausgerechnet Helmut Markwort, der bekanntlich schon 1999 die letzte Auflage seines Focus eigenhändig verbrannte und ins Kloster ging, soll die Analphabetenquote in Deutschland dermaßen hochgetrieben haben, daß selbst die Gebildeten unter den Usern mit den einfachsten Anweisungen ihrer Windows-2000-Software nicht mehr zurechtgekommen seien.

Diese Theorie ist ebenso unsinnig wie die Hypothese, daß Helmut Kohl (warum heißen eigentlich alle Sündenböcke Helmut?) nach seinem überwältigenden Wahlsieg vor drei Monaten noch einmal das Steuer hätte herumreißen können, wenn er Leo Kirch ins Kabinett „eingebunden“ und Rita Süssmuth zur Programmchefin von Sat.1 ernannt hätte.

Selbst diese an sich ganz einfallsreiche Variante wäre zu diesem Zeitpunkt nur noch Flickschusterei gewesen. Das letzte Fax, das uns Friedrich Küppersbusch von den Malediven schickte, war eindeutig: „Nie wieder Fernsehen!“ Danach brach der Faxverkehr zusammen, aber wenn Friedrich Küppersbusch sich hätte korrigieren wollen, hätte er ja eine Flaschenpost schicken können.

Es liegt auf der Hand, daß der kulturelle Verfall einsetzte, als die Computerindustrie den Befehl „Download!“ in weltweiten Umlauf brachte. Wenn die ganze Menschheit damit beschäftigt ist, ihre Programme herunterzuladen, muß sie schließlich irgendwann in der Steinzeit ankommen. Jetzt ist alles kaputt. Der WDR, den Fritz Pleitgen vergeblich mit ein bißchen Plapperradio zu retten versuchte. Die Papierindustrie, weil man in nur noch virtuellen Wäldern mit dem Holzschlag nicht zurechtkam. Auch die von den Grünen propagierte Papyrusmanufaktur ist buchstäblich untergegangen, weil natürlich kein Schilf mehr wächst, wenn die Küsten versinken. Klar, daß jetzt die Steinmetze Oberwasser haben und im Silicon Valley die Meißel gewetzt werden.

Wie die taz bis heute überleben konnte? Wir wissen es nicht. Aber es ist gut, daß es auch für die Medienwissenschaftler ungelöste und vermutlich nie lösbare Rätsel gibt.