Der Griff zur Wodkaflasche gehört einfach dazu

■ Beim Saufen müssen „echte russische Männer“ mithalten können, sonst werden sie nicht für voll genommen. Anlässe zum Trinken bis zum Umfallen gibt es genug

Der Sekt war alle. Iwan Gorbatschow und seine Frau gehen zum konkreteren Stoff über: Absolut, Wodka, den Iwan allen anderen Sorten vorzieht. Sie nippen. Erst geht die Gattin, dann Iwan zu Boden. Am nächsten Tag wachen beide im Krankenhaus auf. Es hätte auch der letzte Tropfen sein können wie bei den rund tausend Opfern jährlich in Rußland, die das „Wässerchen“ Wodka für rein halten, nur weil man durchschauen kann. Allerdings war Iwan Gorbatschow nicht irgendein saufender Wasja aus der Provinz, sondern Leiter der russischen Lebensmittelkontrolle. Seinen Mitarbeitern war offenkundig ein Fehler unterlaufen. Grund genug, um nicht nur den Stoff, sondern auch die Arbeit der Behörde einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Versuche, der Panscherei den Garaus zu machen, werden in Rußland des öfteren mal unternommen. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Die jetzige Kampagne hat es denn auch mehr auf die Steuersünder als auf die gesundheitlichen Gefahren des Volkstrunks abgesehen. Schon in reinster Qualität verursacht er gesundheitliche und volkswirtschaftliche Schäden, die astronomische Höhen erreichen. Der letzte Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, startete 1986 eine Antialkoholkampagne, die ihn zum bestgehaßten Mann im Lande machte. Als Abstinenzler erfüllte er nicht die Kriterien eines „echten russischen Mannes“, der schluckt, bis er umkippt. Frauen, die unter dem Alkoholismus ihrer Männer schwer zu leiden haben, unterstützen absurderweise das Image. Ein besoffener Muschik kann sich größter Zuwendung sicher sein, jedes Vergehen wird ihm verziehen. Er war eben blau.

Das gesellschaftliche Bewußtsein leugnet hartnäckig die Volkskrankheit Alkoholismus. Als alkoholgeschädigt gilt erst der, dessen Leberzirrhose ihn an medizinisches Gerät fesselt. An die 150 Halbliterflaschen Wodka oder 15,5 Liter reinen Alkohols schluckt jeder Bürger im Jahr durchschnittlich. Zieht man die gewöhnlich weniger alkoholisierten Frauen und Kinder ab, müßte die Hälfte der Nation eigentlich jeden Tag betrunken sein.

Gorbatschow scheiterte mit seiner Maßnahme. Doch stieg immerhin innerhalb von drei Jahren die Lebenserwartung der Russen von 61 auf 64 Jahre. Mittlerweile muß er sich schon mit 59 auf den statistischen Tod einstellen. So etwas macht melancholisch und liefert Anlaß zu trinken: „Bei uns trinkt man nicht aus Geselligkeit, zur Entspannung und in Maßen“, erläutert Soziologe Alexander Golow. In Rußland greife man zur Flasche, wenn es einem schwer ums Herz wird oder man sich langweilt. „Und man langweilt sich, wenn man nichts tut, aber mühelos etwas tun könnte.“ Umgekehrt sei es genauso, entschlüsselt er feinsinnig. Man tue nichts, da von Anfang an feststehe, täte man es, wäre es ohnehin nicht machbar. Die Philosophie des Suffs ist der Schlüssel zum Rätsel des Landes und seiner fehlenden Ordnung in allen Bereichen. In Rußland wird gesoffen, um miteinander zu reden. Nicht etwa unterhalten, um dabei ein Gläschen zu genießen.

Noch etwas unterscheidet russischen und den üblichen Alkoholismus. Keinesfalls darf er antiseptisch, reinlich daherkommen. Ein bißchen Dreck, Ruß und Schmiere gehören dazu. Am besten, wenn der Wodka den Geruch der Fabrik, den Staub und Dieselgestank des Lkws und den Schweiß der Verkäuferin noch an sich hat. Das, so meint Schriftsteller Igor Jarkewitsch, sei der letzte entscheidende Kick für eine russische Seele: Der Wodka muß nach dem harten Schicksal Mütterchen Rußlands riechen, das sich noch lange nicht trockenlegen läßt.

Peter der Große errichtete 1705 das erste Wodkamonopol im Lande, um seine Kriege zu finanzieren. Stalin wollte nach Lenins Tod nicht auf 500 Millionen Wodkarubel verzichten, weil er befürchtete, nicht fest genug im Sattel zu sitzen. Boris Jelzin hofft die Staatsschulden zu begleichen. Beim Wodka sind sie alle gleich.