■ Das Projekt „Europäische Union“ hat keine Strahlkraft. Verantwortlich dafür sind auch die intellektuellen Eliten
: Die Trägheit der Kasinomentalität

Das Projekt der Europäischen Union schreitet, wenn auch nicht ungebremst, so doch voran. Die Stabilitätsvereinbarungen von Dublin machen den Euro wahrscheinlicher. Um den Maastricht- Kriterien zu genügen, werden die Sparpakete immer größer. Das Schengener Abkommen wird allmählich greifen. Über die Osterweiterung wird zumindest geredet. Wer Skepsis äußert, gilt als Feind des Fortschritts oder, schlimmer noch, als Nationalist.

Und doch fehlt etwas an diesem „Europa“: Es geht keine Strahlkraft von ihm aus. Die Stimmung in den einzelnen Ländern ist abwartend bis ängstlich, die sozialen Belastungen erzeugen Unmut. Unter Intellektuellen gilt es als unfein, über Europa zu debattieren.

Das Europa der Europäischen Union, daran besteht kein Zweifel, war und ist immer noch in erster Linie ein ökonomisches Projekt. Als wären sie alle gute Marxisten, glauben die Architekten der Union offensichtlich, daß nach der wirtschaftlichen Einigung und der Währungsunion die politische Einheit zwangsläufig folgen und ein bislang nur rudimentär entwickeltes europäisches Bewußtsein bei den Bürgern sich allenthalben einstellen werde. Die ökonomische Basis soll den politisch-kulturellen Überbau bestimmen und formen.

Nicht nur, weil vieles, was Marx dachte, so unrichtig nicht ist, weist auch dieses Modell durchaus eine gewisse Plausibilität auf. Der Kraft der Ökonomie haben im Ernstfall andere gesellschaftliche Instanzen wenig entgegenzusetzen. Die ökonomische Klammer ist als Motor der Integration zweifellos stärker als die Beschwörung einer europäischen Identität, von der keiner so recht weiß, was darunter verstanden werden sollte.

Daß viele, vor allem auch linke Intellektuelle wie etwa Joscha Schmierer in einer „Einigung ohne Mythos und Utopie“ einen Vorteil sehen, weil Europa so gefeit bleibt vor der Versuchung politischen Pathos, leuchtet ein. Andererseits war und ist es eine triftige Kritik an Marx, daß er die Eigendynamik der Überbauphänomene – also des politischen Systems, der Rechtsverhältnisse, der Kultur, der Wissenschaften und Religionen – unterschätzt habe. Dies gilt auch für das EU-Projekt. Die Frage nach der Bedeutung einer europäischen Kultur als zentrales Moment einer europäischen Identität wird an Bedeutung mit zunehmender Integration nicht verlieren – sondern gewinnen. Schon die Einführung der Einheitswährung zeigt, daß nicht nur wirtschaftliche und finanzpolitische Mechanismen deren Erfolg werden garantieren können. Es wird darauf ankommen, wie groß das Vertrauen ist, das die Menschen in diese Währung setzen. Vertrauen aber ist nicht einfach herstellbar. Der Hinweis auf die Vorteile wird durch moralische Überzeugungsarbeit ergänzt werden müssen. Wovon aber sollen die Bürger Europas überzeugt werden? Von der Idee „Europa“?

Bis jetzt gelang es noch keinem, diese schlüssig zu erläutern. Der einzige handfeste Grund, der auch emotionale Bindungen schaffen könnte, daß es nämlich sinnvoll sei, in Zeiten globalisierter Konkurrenz ein großes, starkes „Reich“ zu bilden, wagt man verständlicherweise erst gar nicht zu nennen.

Die Zurückhaltung der Intellektuellen in dieser Frage hat gute Gründe. Intellektuelle dachten sozial und international. Europäisch waren sie aus Zufall, und wenn sie sich dessen bewußt wurden, dann mit einem Gefühl der Scham: Man kann schwer den Eurozentrismus geißeln und zugleich eine Sympathiekampagne für Europa starten. Wenn überhaupt Europa propagiert wurde, dann nur von Denkern, die in der intellektuellen Welt keine gute Presse haben: der vergessene schottische Dichter Charles Mackay, der Frühsozialist Moses Hess, der Trivialautor Victor Hugo, der stets unzeitgemäße und anstößige Friedrich Nietzsche, der konservative Kritiker der Massengesellschaft, José Ortega y Gasset, und der Aristokrat Richard Coudenhove-Kalergi, der um Europas Weltgeltung bangte.

Letztmals wurde die europäische Idee von Intellektuellen als „Mitteleuropa“ ernsthaft diskutiert, unmittelbar vor dem Zusammenbruch des realen Sozialismus. Manche Dichter und Denker jenseits des Eisernen Vorgangs schien dies eine Möglichkeit, die Spaltung dieses Raumes aufzuheben zu durchbrechen. Mittlerweile mußte auch diese Idee, die in Deutschland und Österreich ohnehin durch ihre Geschichte für viele belastet ist, vor den Realitäten kapitulieren: Der Nationalismus setzte sich durch. Die sogenannten Reformstaaten wie Ungarn oder Polen dürfen sich nun vor der Beitrittstür zur EU anstellen.

Die Tradition einer anspruchsvollen intellektuellen Reflexion über Europa als politische Vision müßte so überhaupt erst begründet werden. Daß die Union Europas bislang nicht als Projekt des europäischen Geistes begriffen wurde, hat handfeste historische und politische Gründe: Was immer man bis heute als europäisch verstehen mußte, gründete weniger in Einheitsphantasien als in realen Diversifizierungen.

Europa ist das Produkt von Spaltungen. Von der Teilung des Römischen Reiches über die Schismata der christlichen Kirche, von der Herausbildung der Nationalstaaten bis zum Eisernen Vorhang: Seit 2.000 Jahren ist Europa im Zerfall begriffen. Was dieser Prozeß an kultureller und politischer Energie freisetzte, lädt nicht mehr unbedingt zur Identifikation ein, auch wenn sich darin genuin die europäische Moderne ausdrückt: Säkularisierung, Aufklärung, Kapitalismus und Kolonialismus, das Phantasma der Nation und die Herrschaft der Maschinen. Nicht nur als ideelles, auch als politisches Projekt hat die europäische Einheit keine Tradition, auf die sie sich beziehen könnte – denn die europäische Hegemonie durch Napoleon scheidet dafür ebenso aus wie Hitlers „Festung Europa“.

Dieser Befund macht verständlich, warum das Europa der Europäischen Union weder die Herzen entflammt noch die Köpfe inspiriert. In der daraus resultierenden spürbaren Genugtuung, daß Europa ein technokratisches Projekt ist, liegt aber auch die Gefahr: Die Erleichterung könnte sich als eine Täuschung erweisen. Denn daß ökonomisch-technokratische Projekte wie von selbst gelingen, gehört auch nicht eben zum Erfahrungsschatz der Europäer.

Das Wagnis des Neuen – und dies bedeutet „Europa“ heute – erforderte mehr Einsatz, als eine Kasinomentalität geben kann. Ohne diesen Einsatz könnte sich die Europäische Union als ein Projekt erweisen, das „europäisch“ in seinem herkömmlichen Sinn werden könnte: wenn sie wieder zerfällt. Konrad Paul Liessmann