Kohl erfroren – die Leute tauen auf

■ Minus 25 Grad Celsius machen erfinderisch: Autofahrer bearbeiten ihre Vehikel mit Fön und Kerzen. Gemüse vereist, Preise überhitzen sich. Eisbären richtig glücklich, Schwäne festgepappt, Inselurlaub zwangsverlängert

Eisland (taz) – Diese Kälte: Kohlköpfe erfrieren (Gemüsepreise bis plus 40 Prozent), und der Deutsche wird erstaunlich erfinderisch: In Siegburg beobachtete die Polizei einen PKW-Lenker, der „bei voller Fahrt“ (Polizeibericht) mit einer Kerze in der Hand das Eis der Windschutzscheibe wegzutauen versuchte (Verwarnungsgeld). In Hannover wollte ein Autobesitzer sein bockiges Immobil mit einem Fön auftauen (ausgebrannt/15.000 Mark Schaden, dafür kein Bußgeld).

Hebron? Lima-Geiseln? Milošević? Die heiße Weltpolitik wird zunehmend uninteressant, wenn Deutschland friert, bibbert, zittert. Es gibt kein anderes Thema mehr. Rekordwerte allüberall. Nationale Aufmerksamkeit erreichte gestern Gardelegen bei Magdeburg mit einem Bestwert von minus 26,3 Grad und beraubte damit Straubing (minus 26 Grad) die Pole Position dieses Winters. Selbst Düsseldorf und Münster kamen auf nahe minus 25 Grad, in Berlin (Schönefeld) wurden minus 21,6 Grad gemessen, immerhin Januar-Kälterekord seit 1948.

Eisbären in den Zoos lächeln, in Berlin- Zehlendorf auch zehn Schwäne, nachdem sie auf Haveleis festgepappt von der heldenhaften Polizei gerettet worden waren, 5.500 Urlauber müssen ihre Ferien auf Juist und Wangerooge wohl zwangsverlängern (nix mehr Schiffe). Dafür wurde in Ostbevern ein Radfahrer gesehen.

Nahe Genua wurde ein Liebespärchen postkoital von der Polizei aus einer zugeschneiten Um(Ent-?)kleidekabine gerettet. Im niederländischen Friesland findet am Samstag erstmals seit elf Jahren wieder der 200-Kilometer-Grachten-Schlittschuhmarathon statt. Überraschenderweise mußten gestern beim Ort Sneek noch „einzelne Eisplattenimplantate“ verlegt werden.

Auf deutschen Flüssen und Kanälen kuscheln sich frierende Treibeisstücke immer enger zu einer geschlossenen Eisdecke (wärmend?) zusammen. Ostseehäfen melden 20 Zentimeter Festeis. Auch die Deutsche Bahn redet vom Wetter. Meist wegen ihrer harten Weichen, die gestern morgen zugefroren erwachten. Verspätungen konnten durch einen raffinierten winterkompatiblen Taktverkehr begegnet werden: Acht-Uhr-Züge kamen eben um neun und so weiter.

Die Kälte läßt uns lernen: Keineswegs, mahnen Ärzte, frostige Finger mit Schnee reiben: macht alles nur noch schlimmer. Die Kälte lehrt uns hören: Polyphone Orgelkonzerte startunwilliger Autos auf allen Parkplätzen bundesweit. Sie lehrt uns sehen: Eine Elbschleuse wird bei dpa zu einem „Stilleben aus Eis, Schnee und sechs Schiffen“. Und: Kälte lehrt uns mannhaftes Durchhalten: In einem Waldstück im Lahn-Dill-Kreis überlebte ein gestürzter 73jähriger 17 Stunden bei minus 17 Grad „ansprechbar“ (Polizeisprecher).

Mitten in dieser Kälteidylle drohen jedoch die ersten Frühlingsvorboten: Moskau meldet lächerliche minus 18 Grad. Von Süden droht den Alpen „eine richtige Hitzewelle“ (Wetterpoet Jörg Kachelmann). Heute und morgen soll es in Deutschlands Südhälfte dank des Frankreichtiefs „Natalie“ Neuschnee bis 20 Zentimeter geben und, so das Wetteramtsorakel, nur noch „milde frostig“ werden, was dpa gleich eine „fast schon zynisch anmutende Prognose“ nannte. Mancherorts, wie etwa im subtropischen Aachen, war das Thermometer bereits am Donnerstag morgen erstmals seit Tagen wieder in den einstelligen Minusbereich emporgeschnellt. Aber keine Angst: Sonntag geht's wieder abwärts, allerdings kaum unter minus 30 Grad, wie das Wetteramt Essen fürsorglich mitteilt. Da sei die meteorologische Grenze für deutsche Landen erreicht. Bernd Müllender