Leere nach der kollektiven Wohnidee

■ Das alte Wohnkonzept der Karl-Marx-Allee ist untergegangen. Der Masterplan sucht Alternativen. „Wie gewohnt?“ Teil VI

Eine Straße beginnt. Die Karl- Marx-Allee: zehn Fahrspuren, zwei Reihen Blech in der Mitte. Mehr sieht kaum einer, der zwischen Alexander- und Strausberger Platz entlangrast. Die regiden Quader zu beiden Seiten erscheinen als die typischen Wohnblocks, die überall auf der Welt stehen könnten. Ihr Wert scheint sich darin zu erschöpfen, wie viele Menschen sie vor der Obdachlosigkeit bewahren. 100 Meter vom Alex scheint die Stadt am Ende.

1959 stand die Karl-Marx-Allee für einen neuen Anfang. Stalin war tot. Mit ihm starb der Zuckerbäckerstil. Der zweite Bauabschnitt mußte sich nicht mehr doktrinär dekorieren. Der Prototyp des sozialistischen Wohnkomplexes konnte seine Modernität ungeschminkt zur Schau tragen.

Den Bebauungsplan lieferten die Architekten Edmund Collein, Werner Dutschke und Joseph Kaiser. Sie rückten die Gebäude so weit auseinander, daß mehrere Brigaden nebeneinander die neu entwickelten Großtafelsysteme montieren konnten. So ließ sich zugleich die damals überall herrschende Forderung der Moderne nach „Licht, Luft und Sonne“ verwirklichen. Doch es ging um mehr, als nur „jedem nach seinen Bedürfnissen“ ein Kontingent privater Wohnfläche zuzuteilen. Das Ideal hieß kollektives Wohnen.

Bereits die Eingangsfoyers lassen diese Absicht erkennen. Nur diese Bauteile ragen aus den Wohnquadern heraus. Mit großzügiger Geste inszenieren die Foyers das Heraustreten des Privatmenschen in den kollektiven Raum. Die luftigen Freiflächen fassen die Wohnblocks zu einem gemeinschaftlichen Raum zusammen. Wiesen, auf denen der einzelne selbst hätte entscheiden können, ob er lieber in der Sonne liegen oder Bumerang werfen will, entwickelten sich allenfalls dort, wo man vergessen hatte, Abstandsflächen mit Ziersträuchern zu dekorieren. Jede Fläche hatte einen Zweck zu erfüllen. Neben der notwendigen Infrastruktur wie Kaufhallen, Schulen und Ambulatorium entstand das luxuriöse Café Moskau, ein Kinderwochenheim, ein Sommerbad etc. etc.

Auch die Straße war nicht einfach eine Straße. Im Nordosten des Areals, in direkter Sichtachse zum Alex, stellte man ein Denkmal des Propheten des kollektiven Gedankens auf. Die umliegenden Wohnbauten verwandelten den Leninplatz in einen gewaltigen Repräsentationsraum. Am ersten Mai, wenn sich Bewohner und Bühnenpersonal beim Promenadenkonzert trafen, verwandelte sich die Karl-Marx-Allee in ein 125 Meter breites Gesellschaftszimmer.

Für die Leute, die hier wohnten, war das selbstverständlich. Sie arbeiteten meist in Partei,- Regierungs- und Handelsorganisationen, begriffen sich als Teil des Staates, engagierten sich für die Hausgemeinschaft. Der Hausgemeinschaftsleiter organisierte gemeinsames Säubern der Hofanlagen. Die Pioniere gratulierten den Geburtstagskindern der Nachbarschaft mit einem Faltblatt.

Mit der DDR brach das kollektive Lebensmodell zusammen. Die Hausgemeinschaft zerfiel in wendige Individuen, nicht kollektiverfahrenen Zuzüglern und jene, die ihre Wohnung immer seltener verlassen. Der Hausmeister trat an die Stelle des Hausgemeinschaftsleiters. Er muß nur die Hardware des Hauses instandhalten. Die Wohnungsgesellschaft investierte dort, wo es dem einzelnen zugute kommt und wofür er (mehr) Miete zu zahlen bereit ist: eine neue Fassade, Fenster, Heizung.

Aus der komplexen Modellsiedlung wurde eine Anzahl gewöhnlicher Wohnungen. Das Dazwischen wurde zaghaft von privaten Initiativen besetzt. Auf der Promenade Schillingstraße entstand ein Wochenmarkt. Im Sockel der Hochhäuser eröffneten Friseure und Videotheken. Die Straßen gehören allein dem Individualverkehr. Die Nutzung der Freiräume, die sich hier auftaten, steht noch immer in keinem Verhältnis zu ihrer Dimension.

Die Leere zu füllen versucht nun der von Dieter Hoffmann- Axthelm und Bernd Albers entwickelte Masterplan. Auch er beginnt mit einer Straße, allerdings mit einer gewesenen: der Landsberger Allee. Die Ausfallstraße des Nordostens soll wieder auf den Alexanderplatz führen. Mit ähnlicher Radikalität werden ihre alten Nebenstraßen aktiviert, die Zwischenräume privatisiert und mit einer fein parzellierten Blockstruktur gefüllt. Sie enthält die bewährte Mischung aus Wohnungen, Läden und Büros. Der Bestand wird, abgesehen von zwei Kitas und rund 300 Wohnungen, nicht abgerissen, sondern eingebaut.

Die Überlagerung der vorhandenen, monumentalen Objekte mit dem traditionellen Stadtmuster verspricht alten und neuen Bewohnern Gewinn. Ästhetisch – im Kontrast wirken beide Teile stärker als zuvor – und funktional: Der Rückbau der Verkehrsschneisen und das Netz neuer Straßen verheißen mehr Beweglichkeit. Die durch die Blockstruktur entstehenden Höfe sollen überschaubare, von selbst funktionierende Nachbarschaften abgrenzen.

So könnte es sein, würde der Plan von den Qualitäten und Potentialen des Bestandes ausgehen und darauf aufbauen. Doch der Plan legt den gewesenen Grundriß über die vorhandene Stadt. Seine Prämisse heißt Rückbau, nicht Neuinterpretation.

Das historische Quartier, dessen Konturen im Nordwesten der Karl-Marx-Allee wieder entstehen sollen, hieß einst Königsstadt. Seine radiale Ausrichtung kollidiert mit der Gegenwart, in der sowohl die Plattenbauten wie auch Kollhoffs Alexanderplatzplanung der Logik des Rasters folgen. So müssen die neu-alten Blocks wie Fremdkörper wirken. Die nur historisch legitimierte Form wird zur fixen Idee. Statt, wie versprochen, den Bestand an die Stadt anzubinden, wird er ins Irgendwo des Blocks verbannt. Ein isoliertes Quartier entsteht, abgeschnitten von seinem natürlichen Zentrum, der Karl-Marx-Allee.

Während der Plan einer gewesenen Ausfallstraße mit großem Aufwand nachjagt, bleibt er im Umgang mit der bestehenden Magistrale phantasielos. Vor den existierenden Quader werden weitere errichtet, nördlich quer, südlich längs. Der Querschnitt wird von 125 auf 90 Meter verengt. Auf dem Mittelstreifen stehen zwei Baumreihen. Die Zahl der Fahrstreifen bleibt bestehen.

Damit ist die kompositorische Ordnung respektiert, eine bewährte Breite hergestellt und die Leere des Aufmarschplatzes zugebaut. Doch zugleich verschwindet ein einzigartiger Straßenraum, der die Dimensionen der Gesamtstadt erahnen läßt. Ist aber das Problem einer Straße, deren nächster, bedeutender Haltepunkt „Warschau“ heißt, eine Frage von Abmessungen? Hat die demokratische und marktwirtschaftliche Stadtplanung keine anderen Möglichkeiten, die Freiräume in Betrieb zu nehmen, als sie mit sieben Geschossen Wohnen/Gewerbe zuzustellen?

Daß ein baumbestandener Mittelstreifen keine Garantie für einen attraktiven Boulevard ist, kann man bei den „Linden“ sehen. Auch die DDR wußte das. Im östlichen Abschnitt der Stalinallee liegen die Fahrspuren im Schatten der südlichen Bauflucht, während der Grünstreifen an den nördlichen Trottoir angeschlossen in der Sonne liegt. Die DDR hat die Magistrale mit großstädtisch-eleganten Pavillons belebt. Daß so etwas auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen funktionieren kann, zeigt das Kosmos-Kino, das in derselben Straße vor kurzem vom Filmpalast zum Multiplex mutierte, ohne seinen Charakter als Monument der Moderne zu leugnen. Ähnliches erreichte Daniel Libeskind. Im Wettbewerb Alexanderplatz entwarf er 1993 einen außerordentlich verdichteten Pavilloncluster, der so laut und geschäftig war, daß er auf dem Mittelstreifen der Magistrale den ihm gemäßen Bauplatz fand. Die Karl- Marx-Allee wandelte sich und blieb doch, was sie war: eine grandiose Straße. Hans Wolfgang Hoffmann

Teil VII erscheint am 4. Februar: Die gewohnte Stadt – 10 Jahre IBA