Die Last der Bilder

Wie bezahlbar ist Geschichte: Er hat Fotos gemacht, sein Leben lang — was wird geschehen mit dem Archiv des Berliners Jochen Clauss?  ■ Von Ulrich Clewing

Zweiundvierzig Jahre Berufsleben, wieviel macht das in Kubikmetern? Oder in Zentnern? Oder in Bildern? Letzteres läßt sich am ehesten beantworten. Jochen Clauss, der Gründer von Story-Press, war Fotograf. Und da gibt es Zahlen, Listen, Verzeichnisse. Gut 8.000 belichtete Filme, rund 100.000 Abzüge, mehr als 240.000 hochempfindliche Negative.

Wenn Corinna Clauss von der Arbeit ihres vor zwei Monaten verstorbenen Vaters erzählt, spricht sie von Informationen: „Man macht sich ja gar nicht klar, wie viele Informationen auf einem Foto sein können.“ All die Menschen, die Orte, die Tage, Monate und Jahre müssen nach Stichworten geordnet werden, damit man sie bei Anfragen wiederfinden kann. Corinna Clauss hat das Archiv ihres Vaters betreut, zehn Jahre lang. Bis sie 1994 damit aufhörte, weil sie sah, daß es ein Kampf gegen Windmühlen ist.

Jochen Clauss, 1927 in Dresden geboren, absolvierte nach dem Krieg zunächst eine Lehre als Verlagskaufmann beim Berliner Nicolai Verlag, arbeitete später eine Zeitlang für Elisabeth Noelle- Neumanns Meinungsforschungsinstitut in Allensbach, kehrte dann aber – „wegen einer Frau“ – Mitte der 50er Jahre wieder nach Berlin zurück.

Anfänge der Berliner Nachkriegspresse

Als Fotograf war Clauss Autodidakt. 1955 fing er an, das Hobby zum Beruf zu machen. Fotografiert wurde alles, was ihm vor die Kamera kam. „Damals lief das so“, erinnert sich seine Tochter, „daß die Feuerwehr bei uns zu Hause anrief, und er ist dann oft mitten in der Nacht los, um seine Fotos am nächsten Morgen den Zeitungen anzubieten.“ Entwickelt wurden die Negative daheim in der Badewanne, zum Trocknen heizte die Familie in der Küche den Ofen an. Von den meisten Blättern, die Clauss in jenen Jahren mit seinen Bildern belieferte, kennt man heute nicht mal mehr auch nur die Namen.

Irgendwann wechselte Clauss dann „ins Feuilleton“, spezialisierte sich auf Theaterfotografie, „machte“ aber auch Kunstausstellungen und was sonst noch anfiel: Filmproduktionen, die frühen Berlinalen, Sophia Loren bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen Tempelhof, der Bau der Mauer. Er gab einen eigenen Pressedienst heraus, in dem er Berichte über Modenschauen verfaßte und bebilderte. Kein leicht verdientes Brot, obwohl der Kreis von Jochen Clauss Abnehmern mit den Jahren immer größer wurde.

Er schickte seine Fotos an die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten, an den Südwestkurier und die Kieler Nachrichten, an den Züricher Tagesanzeiger und den Wiener Standard, an die Theaterrundschau und Theater heute, die erste alternative Berliner Stadtzeitung hobo und an deren kleine Brüder tip und zitty.

Er ließ kaum eine Zeitung aus, er konnte es sich schlicht nicht leisten, wählerisch zu sein. So gehörten auch das Deutsche Ärzteblatt, der Mannheimer Morgen, die Welt und die Bäckerblume zu Clauss' Kunden. „Mein Vater hat immer von der Hand in den Mund gelebt“, sagt Corinna Clauss, „Urheberrecht ist ein weites Feld.“

Der Fotograf Clauss hat darüber hinaus einiges ausprobiert, um an Geld zu kommen. In dem Büro in der Nähe des Bayerischen Platzes stehen nicht nur Schränke voll mit Fotomaterial, sondern auch eine ganze Reihe von merkwürdig altmodisch anmutenden Gerätschaften. Um seinen Traum vom eigenen Pressedienst verwirklichen und von Druckereien unabhängig zu sein, besorgte sich Clauss eine Offset-Maschine, einen gigantischen, vorsintflutlichen Apparat. In einer Ecke staubt ein anderes Museumsstück vor sich hin: der erste Oce-Kopierer auf dem Markt. Als Faxgeräte aufkamen, kaufte Clauss eines, legte 4.000 Mark dafür auf den Tisch, und stellte später fest, daß man die Fotos damit doch nicht in druckreifer Qualität versenden konnte. „Mein Vater war an technischen Entwicklungen immer sehr interessiert“ – schon aus geschäftlichen Gründen.

Erst gegen Ende seines Arbeitslebens habe er „abgebaut“, meint Corinna Clauss. Sie sagt es ohne Mitleid, eher ein wenig streng, als sei sie ärgerlich, daß ihr Vater das gemeinsame Werk hat schleifen lassen: „Das Archiv hat für mich einen sehr emotionalen Wert. Es ist zum Teil auch meine Lebensgeschichte, die man hier sieht.“ Zusätzliche Schwierigkeiten bereiteten dem Fotografen die Umstellung vieler Zeitungen von Schwarzweiß- auf Farbdruck. Da er die Farbabzüge nicht selbst entwickeln konnte, blieb vom Fotohonorar immer weniger übrig. Dazu kam die elektronische Bildverarbeitung. Auf CD-Rom gespeicherte Fotos werden einmal bezahlt. Danach kann jeder, der will, sich die Bilder runterladen, ohne daß der Urheber zwangsläufig davon erfährt.

Vierzig Jahre Theatergeschichte

Doch die Leidenschaft des Jochen Clauss galt dem Theater. Er hat sie alle fotografiert: Lilo Palmer und Horst Buchholz, Per Schmidt und Liselotte Pulver, Brigitte Mira und Boy Gobert. Er war dabei bei den Inszenierungen des Staatstheaterintendanten Boleslaw Barlog, von Helmut Käutner und Fritz Kortner, er sah die ersten Arbeiten von Peter Stein an der Schaubühne am Halleschen Ufer, hat den jungen Bruno Ganz erlebt, die Clever und die Lampe. Er fotografierte die Opern von Fritz Palm, dem Vorgänger von Götz Friedrich und die verschwenderischen Theatervisionen, die Hans Neuenfels Ende der 80er Jahre in der Freien Volksbühne umsetzte.

Vier Jahrzehnte Berliner Theatergeschichte, fein säuberlich verpackt in Wandschränken und Fototaschen, eine Fundgrube für Liebhaber und für Corinna Clauss ein echtes Problem. Das Archiv weiterzuführen ist entschieden zu viel Arbeit für eine allein. Außerdem ist es unrentabel: Hin und wieder kommen Anfragen von Schulbuchverlagen oder Theaterzeitschriften, aber „die großen Verlage haben alle längst ihre eigenen Archive“. Und die Klientel, die Theaterfotos braucht, ist klein: „Das reicht nicht, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.“

Dabei gibt es durchaus Einrichtungen, die Jochen Clauss' Archiv übernehmen würden. Der Ullstein-Bilderdienst Berlin beispielsweise oder Gruner+Jahr in Hamburg. Doch dort würden die Fotos eingehen in den schon jetzt schier unerschöpflichen Fundus an Bildern aus allen Sparten und Zeiten, von Fotografen aus aller Welt. Mögliche Interessenten wären auch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder das Berlin-Museum, das erst kürzlich sämtliche Fotos von Clauss' Kollegin Eva Kemlein erworben hat. Dann wäre auch die Konservierung der Abzüge und Negative garantiert. Ein anderer der alten Berliner Theaterfotografen, Harry Croner, überantwortete sein Archiv dem Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität München.

Über Preise wird geschwiegen

Zu welchem Preis, darüber schweigen Käufer und Verkäufer sich freilich aus. „Ein Archiv“, sagt Corinna Clauss, „ist soviel wert, wie jemand dafür zu zahlen bereit ist.“ Und das ist im Zweifelsfall nicht viel. Doch Corinna Clauss geht es nicht darum, den großen Reibach zu machen. „Wichtig ist, daß das Archiv meines Vaters in seiner jetzigen Form erhalten bleibt.“

Der Rest ist zweitrangig. Sobald sie das Büro einigermaßen aufgeräumt hat („Er war leider kein sehr ordentlicher Mensch“), will sie sich um den weiteren Bestand des Archivs kümmern, abends, nach Feierabend. Denn ihre Stellung als Betreuerin der Gäste einer Berliner Bank wird die studierte Theaterwissenschaftlerin für die Archivarbeit schließlich nicht aufgeben können: „Geschichte hat immer auch mit Geld zu tun.“