Unser täglich Brot gib uns länger

■ Der Tag ist schöner, weil er länger geworden ist. Die dickliche Verkäuferin stöhnt um fünf vor acht, wie sie es früher um sechs tat. Aber zu Haus ist alles anders: kommunikativer eben

Der Junge hat's nicht leicht. Schrippen rüberreichen von morgens bis abends, Käse abschneiden zwölf Stunden rund um die Uhr und zwischendurch mal serbischen und mal Nudelsalat auslöffeln. Mal flucht er leise in seinen Schrippenkorb, mal laut, wenn die alten Damen kommen und ihn fragen, wie es denn so ist mit den langen Tagen. Dann sagt er: Anstrengend ist es, zwölf Stunden im Weizen-Roggen-Käse-Biotop zu stehen. Und fügt traurig hinzu: Er komme zu überhaupt nichts mehr. Na ja...

Ich seh' ihn meist dann, wenn die Schrippenkörbe fast leer und die blechernen Salatschüsseln schon weggeräumt sind. Ich seh' ihn zwischen halb und acht. Und ich freue mich, ihn zu sehen. Daß die Schusterjungs längst weg sind – was soll's? „Dann gib mir doch das Malzbrot.“ Es ist das letzte, und ich werd's wahrscheinlich nie ganz aufbrauchen. Daß der Salat schon einen Deckel draufhat – was soll's? In den Holzkisten ganz vorn bei meinem „Reichelt“ liegen noch Tomaten und Gurken, und Mozzarella liegt im Kühlregal.

Seit ich ihn länger sehen kann, sind die Tage schöner geworden. Nein, ich kenne ihn nicht, und ich würde ihn auch gar nicht kennenlernen wollen. Ich würde ihn auch nie fragen wie die alten Damen. Und mich schon gar nicht aufregen wie die Jungsche vor mir, die auch Schusterjungs wollte. Nein, ich freue mich einfach, daß er da ist, noch eine halbe Stunde, daß es überhaupt noch Brot gibt und Tomaten und Gurken und Mozzarella. Den Salat selbst zu machen ist sowieso viel schöner.

Früher... Eigentlich gibt es zwei früher. Ganz früher in der DDR, als das Bäckerbrot bis halb elf reichte und sowieso nur dann zu haben war. Wenn sich die alte Nachbarsfrau um halb acht am Morgen in die Reihe stellte. Um neun hat der Bäcker aufgemacht, um halb elf war der Laden leer.

Oft gab es damals bei uns zu Hause nur Konsumbrot, das meine Mutter in der kleinen Betriebskonsum-Baracke erstanden hatte. So schmeckte es auch. Nach Öl und nach Schmiere, nach VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk eben. Irgendwann stand nur noch Burger-Knäckebrot auf dem Tisch. Wir Kinder wollten es wahrscheinlich so.

Früher, das war auch vor dem 1. November 1996. Das war die Zeit, als die Läden um sechs oder halb sieben dichtmachten, als „frisches“ Brot nur am Zoo und verpacktes entweder im Spätkauf um die Ecke oder bei Lidl im Hauptbahnhof zu haben war. Ersteres schmeckte nach Fahrkarte und vorbeihastenden Menschen und war eh viel zu teuer; letzteres schmeckte nach Harry und schon deswegen nicht.

Nun ist alles anders. Brot ist bei meinem Reichelt bis acht zu haben, wenn auch nicht alle Sorten. Ich liebe frisches Brot und die Menschen, die länger hinterm Tresen stehen. Denjenigen, der sich damit rühmt, die Revolution vollzogen zu haben, den liebe ich nicht. Wirtschaftsminister Rexrodt ist ein Dummbrot. Das nur nebenbei.

Die Tage sind schöner geworden, weil sie länger geworden sind. Weil ich nicht mehr hasten muß nach jedem Krümel Brot, nach jeder Tüte Milch, nach jeder Scheibe Litedammer (zu empfehlen!). Weil ich ganz einfach Geld spare. Statt beim Italiener eine Pizza für teure Groschen zu essen, wird der Ofen zu Hause angeschmissen. Das heizt das Leben zu zweit an und ist zudem noch kommunikativ. Beim Gemeinsam-Kochen wird einfach mehr geredet! Ja, das Leben ist irgendwie kommunikativer geworden. Die Kollegen hetzen nicht von ihrem Schreibtisch weg („Ich muß noch zu Penny!“), sie bleiben („Meyer-Beck hat doch bis um acht auf“).

Für andere kann es belastend sein. Die dickliche Frau an der Reichelt-Kasse stöhnt, wenn sie fünf vor acht noch eintippen muß. Mitleid mit ihr habe ich nicht. Sie hat auch um fünf vor sechs immer gestöhnt. Oder für den Jungen im Weizen-Roggen-Käse-Biotop, der es wahrscheinlich seit dem 1. November nicht mehr zum Friseur geschafft hat. Dabei hätte er es wahrlich nötig. Ich werde ihn doch mal fragen, wie er das findet mit den längeren Öffnungszeiten. Heute ist die Gelegenheit günstig. Mein Reichelt hat nämlich eine Stunde länger auf. Ich kann ausschlafen und dann, so um halb zwei, gutgelaunt fragen, ob es noch Schusterjungs gibt. Jens Rübsam