Am Rande einer mißglückten Party

Plötzlich spielen alle Horváth. Den Theatern ist ein Klassiker erstanden. Bemerkungen zum Volksstück  ■ Von Uwe Mattheiß

Wenn das Theater der Zeit nichts mehr zu sagen hat, kommen die Zeitstücke. Die liefert, was nur auf den ersten Blick erstaunt, eher der literarische Kanon als die aktuelle dramatische Produktion. Kann sich doch nur ein „Klassiker“ mit der Illusion messen, die Gegenwart vollständig ins Werk zu setzen. Im altehrwürdigen Text wird schon jeweils etwas Passendes zu finden sein. So tritt Molières Heuchler „Tartuffe“ derzeit mit Islamistenturban gehäuft auf den Spielplan, für ein wohlfeiles Lehrstück über religiösen Fundamentalismus.

In dieser Sedimentschicht der Klassiker ist jetzt auch Ödön von Horváth (1901–1938) angekommen. Bislang erschienen seine Schilderungen von „Kleine-Leute- Schicksalen“ in der Zwischenkriegszeit als ein – wenn auch höchst poetischer – Anachronismus, angesiedelt in den wirtschaftlichen und politischen Konstellationen der 30er Jahre. Verehrt wurde Horváth als Virtuose einer Zeichnung des Überkommenen, die einem noch einmal so richtig die Gänsehaut über den Rücken treiben konnte. Politische Analyse lieferte Horváth aber schon zu Lebzeiten nicht: Empirie statt Programm, Individuelles statt Allgemeines, humanes rosa Rauschen.

Mit einem Mal ist alles anders. Zwischen Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und der Erosion der Demokratie glaubt man heute, bei Horváth vielleicht nicht die eigene Wirklichkeit, aber doch eine entsprechende emotionale Verfassung wiederzufinden. In der Gewißheit, daß die Gegenwart sich den gesellschaftlichen Bedingungen nach vom Jahre 1930 unterscheidet, läßt sich die kulturell sehr produktive Krisenstimmung dieser Jahre ohne Reue genießen.

Dabei hat Horváth, der Menschenbeobachter, einen bislang kaum wahrgenommenen Vorzug. Er stellt die „soziale Frage“, gesteht dem Theater aber nicht zu, sie an einem Abend zu beantworten. Das macht ihn interessant für eine Gesellschaft, die zunehmend in ihre Gegensätze zerfällt, aber weder eine Theorie noch einen utopischen Entwurf hat, diese zu versöhnen. Horváth wird unversehens zum Dramatiker für die Zweidrittelgesellschaft.

„Kasimir und Karoline“ an allen Orten und hin und wieder „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Die Not, das Theater immer wieder zu erfinden, hat in den Dramaturgenzimmern die Idee des Volkstheaters wiedererstehen lassen. Sie folgt der Binsenweisheit, daß der Ursprung allen Theaters im Jahrmarkt liegt. An den Quellen ruht die Kraft und im Volkstheater auch ein Schuß Exotik. Tatsächlich rühren Horváths bayrisch-österreichische Rauf- und Saufschädel die Herzen an und nähren die Lust am Triebdurchbruch, den der Alltag versagt.

Vorbereitet wurde die Wiederentdeckung Horváths von Mittelbühnen zwischen Darmstadt und Graz. Schließlich, kurz vor Weihnachten, präsentierten drei der wichtigsten deutschsprachigen Theater ihren Zuschauern binnen drei Tagen je einen Horváth als Feiertagsmeditation. Christoph Marthaler inszenierte am Hamburger Schauspielhaus mit „Kasimir und Karoline“ die Unfähigkeit von Menschen, mit Sprache ihr Leben zu durchdringen (taz vom 21.12.). Matthias Hartmann machte dasselbe Stück am Wiener Burgtheater zum Manifest einer – nämlich seiner – „verlorenen Generation“.

Hans Neuenfels indes betreibt am Münchner Residenztheater „Geschichten aus dem Wiener Wald“ als historisches Lehrstück darüber, wie im Idyll und den Gemeinheiten des normalen Lebens der Faschismus schon angelegt erscheint. Bei Hartmann in Wien ist das Münchner Oktoberfest von einem anderen Stern. Seine Vergnügungen sind so fern wie der Große Bär, den ein paar Kinder mit traurigen Augen und den Namen Kasimir oder Karoline nächtens aus einem vollgekotzten Rinnstein anheulen. Sie sitzen an der Rückseite der Achterbahn und starren in das Elend ihres betrogenen Wünsche. Klassenspezifik? Hartmann tauscht die anachronistische Milieuschilderung umstandslos gegen eine moderne. Horváth trifft „Generation X“. Kasimir ist hier ein junger Rebell, der am Rande einer mißglückten Party ins Leiden am großen Elend verfällt. Kein Geld, kein Bier, sein Mädchen ist weg, der Job auch. Jugendarbeitslosigkeit? Kasimirs Leiden könnte auch dadurch hervorgerufen sein, daß Papa ihm die Schecks gesperrt hat.

Der 33jährige Matthias Hartmann gilt als berufsmäßiger Jungregisseur und inszeniert jeden Text wie einen Film mit James Dean. Nicht daß das schlecht wäre, aber die Selbstvergewisserungen von zornigen jungen Männern einer Generation, die von ihren 68er-Eltern um alle Chancen zur Rebellion gebracht wurden, kommen selbst in die Jahre.

Dagegen geraten die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in der Inszenierung des 55jährigen Hans Neuenfels zunächst zum Werk souveräner Altersironie. Auf Hochdeutsch und ohne derbe Volkstümlichkeit entfaltet er die (vermeidbare) große Tragödie in Horváths „kleiner Welt“. Doch dann verläßt ihn das Vertrauen in den Text, er pulvert ihn zeitgeschichtlich auf und macht daraus eine antifaschistische Pflichtübung: In der Kellnersonne der Grinziger Weinlokale grölen schon die künftigen Mörder, Menschen mit Schläfenlocken und eilig gepackten Koffern huschen aus der schönen „Wienerstadt“. Nazis und österreichische Patrioten singen um die Wette, noch liegt „Wien, Wien nur du allein“ vor „Deutschland, Deutschland über alles“, aber eben nicht mehr lange.

Horváths Interesse für das Individuum hat ihn für die Linke bei aller Liebe stets zum unsicheren Kantonisten gemacht. Spätestens die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ verlassen die Ebene sozial determinierter Konflikte. Die Tragödie der Marianne, ihre Suche nach authentischem Leben, könnte – so der Verdacht – auch nach einer Revolution stattfinden. Diese Schwäche indes ist eine Stärke. Die theoretische Unschärfe stellt politische Gewißheit in Frage.