Kaschmirwolle und Kupfer

Vor 1990 bezahlte die Sowjetunion fast die Hälfte des Staatshaushalts der Mongolei. Jetzt springen die westlichen Industrieländer mit Krediten ein  ■ Von Verena Fritz

Kühe grasen an den Straßenrändern, und Jugendliche bauen auf den Bürgersteigen ihre Billardtische auf. Alte, mit Teppichen ausgelegte russische Jeeps fahren durch die Stadt oder stehen mit aufgeklappter Motorhaube am Straßenrand, die Besitzer tief im Innern ersterbender Motoren vergraben.

Ulan Bator hat manches von seiner Gemächlichkeit behalten. Doch seit dem Ende des Kommunismus hat sich in der Hauptstadt der ehemals sozialistischen Mongolei einiges verändert: Deutsche und japanische Luxuskarossen haben die alten russischen Wolgas als Statussymbole verdrängt. Neue Geschäfte, Diskotheken und Restaurants sind entstanden. Dennoch sucht man des öfteren vergeblich nach einem warmen Abendessen: Wegen einer der regelmäßigen Stromausfälle gibt es nur kalte Speisen bei Kerzenlicht.

Vor sechs Jahren begann in der Mongolei der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft. Bis dahin galt das hochgelegene Steppenland mit seinen 2,4 Millionen Einwohnern als engster Satellit der früheren Sowjetunion, den die Russen vor allem als Puffer gegen China brauchten. Anfang der neunziger Jahre verließen rund 40.000 Experten und Techniker aus den sozialistischen Bruderländern sowie rund 100.000 sowjetische Soldaten das Land. An ihre Stelle traten viele neue Berater und Experten aus asiatischen und westlichen Industrieländern und eine oftmals schwierige Selbständigkeit.

Die völlig veralteten Kohlekraftwerke in Ulan Bator halten jetzt die Techniker und Finanzhilfen der amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation USAID in Gang. Und Japan, der größte bilaterale Geber, koordiniert auf jährlichen Konferenzen gemeinsam mit der Weltbank die internationale Hilfe für die Mongolei. Auch Deutschland engagiert sich in der weitentfernten Steppe und übernimmt damit ein eher kurioses Stück DDR-Erbe, denn bis zur Wende leisteten auch die Ostdeutschen Entwicklungshilfe in der Mongolei. 20.000 Mongolen, von denen viele in Dresden oder Ost- Berlin studiert haben, sprechen Deutsch.

Wie in den anderen postsozialistischen Ländern, so gibt es auch in der Mongolei Gewinner und Verlierer der neuen Zeit. „Alles wird teurer“, meint Tuya, Dozentin für deutsche Sprache an der mongolischen Staatsuniversität, „nur unsere Gehälter bleiben gleich.“ Umgerechnet 75 Mark verdient sie im Monat. Ein paar Winterstiefel kosten 40 bis 50 Mark, Brot 50 Pfennige, eine Flasche Wodka 10 bis 15 Mark.

Im Foyer des neu fertiggestellten Luxushotels „Chinggis Khaan“ sitzt Enchbat, ein 23jähriger Mongole, der in seinem schicken dunkelblauen Anzug wie ein englischer Collegeschüler der gehobenen Klasse aussieht. Er handelt mit Kunst und Antiquitäten. „It's a good business“, prahlt er. Die meisten seiner Kunden seien Japaner. Daß die versilberten alten Dolche und Trinkschalen offiziell nicht außer Landes gebracht werden dürfen, scheint sein Geschäft nicht zu beeinträchtigen.

In Sommer 1996 wurde in der Mongolei gewählt, und zum ersten Mal schaffte es eine Koalition der neuen demokratischen Parteien, die kommunistische Mongolische Revolutionäre Volkspartei (MRVP) aus der Regierung zu drängen.

Die neue Regierung, eine Koalition aus Nationaldemokratischer und Sozialdemokratischer Partei unter dem neuen Ministerpräsident Enchsaichan, will vor allem die von den Kommunisten begonnenen marktwirtschaftlichen Reformen beschleunigen. Zwar hatte schon die abgewählte kommunistische Regierung viele Reformen in Angriff genommen und dabei eng mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zusammengearbeitet. Doch je näher die Wahlen rückten und je schwieriger die noch ausstehenden Maßnahmen erschienen, desto mehr geriet der Reformeifer ins Stocken. Ließen sich Viehherden, kleine Geschäfte und Handwerksbetriebe noch recht einfach privatisieren, so blieben die meisten großen Betriebe, wie fleisch- und kaschmirverarbeitende Fabriken, aber auch der gesamte Bergbausektor bisher Staatseigentum.

Und trotz der von Weltbank und IWF verordneten wirtschaftlichen Liberalisierung blieben bis zum Regierungswechsel viele Preise unter staatlicher Kontrolle. Das soll sich jetzt ändern.

So hat die neue Regierung bereits die subventionierten Preise für Kraftstoff heraufgesetzt, um die Ölimporte aus Rußland bezahlen zu können. Auch für einige Basisgüter wie Fleisch und Mehl wurden die Subventionen gekappt. Einem Teil der Pensionäre, viele von ihnen ehemalige Staatsangestellte, wurden die Bezüge gestrichen, um den Staatshaushalt zu entlasten.

Die Bevölkerung quittierte diese neuerlichen Härten des Wandels sogleich bei den Lokalwahlen von Anfang Oktober: In Ulan Bator und über der Hälfe der 18 Aimags (Provinzen) gaben die Wähler mehrheitlich der Kommunistischen Partei ihre Stimme.

Mit weiteren Reformen wird sich auch der Trend einer freien Marktwirtschaft fortsetzen, Unterschiede im Lebensstandard und im Einkommen zu vergrößern. Gesetzentwürfe für die von vielen langersehnte Privatisierung der Wohnungen in Ulan Bator sind unterwegs. Doch etwas mehr als die Hälfte der Einwohner leben in den Jurtenvierteln am Rande der Stadt in traditionellen mongolischen Filzzelten. Sie werden leer ausgehen, wenn das staatliche Eigentum an die derzeitigen Mieter der Wohnungen verteilt oder verkauft wird. Und die für eine langfristige Erholung der Wirtschaft notwendige große Privatisierung der monopolistischen Staatsbetriebe wird viele Menschen arbeitslos machen, denn noch ist der private Sektor zu schwach, um den Staat als Arbeitgeber zu ersetzen.

Die Abgeordneten des mongolischen Parlaments erhalten Bezüge von knapp 150 Mark im Monat. „So ein System fördert geradezu die Korruption“, stellt Ganbold, Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses der neuen Regierung, fest. „Aber wenn wir die Bezüge erhöhen, denken die Leute, die da oben lassen es sich gutgehen, und uns wird die Pension gestrichen.“ Daß es zu einer Untersuchung der Machenschaften vor allem der alten kommunistischen Regierung kommt, ist unwahrscheinlich. „Die Mongolei ist ein kleines Land“, erklärt Sumati, der Direktor des Meinungsforschungsinstituts Sant Maral. „Wenn die neue Regierung der alten den Prozeß macht, würden auch einige ihrer eigenen Leute mit hineingezogen.“

Fährt man in der Mongolei aufs Land, trifft man vereinzelt auf leere und verfallene Ställe und verrostete Bewässerungsanlagen. Sie erinnern an das sozialistische Experiment, die mongolischen Nomaden – bis heute mehr als ein Drittel der Bevölkerung – in Kollektivbauern zu verwandeln. 70 Jahre lang haben die mongolischen Nomaden „Kollektivvieh“ gehütet, jetzt sind sie wieder die Herren ihrer Herden. Rund 25 Millionen Stück Vieh – vor allem Schafe, Ziegen, Rinder, Pferde und Kamele – gibt es in der Mongolei. Kaschmirziegen sind hier der wirtschaftlich wertvollste Besitz, denn die feine Wolle hat auf dem Weltmarkt ihren Preis.

Schon die sozialistischen Planer haben das weite Land gegenüber den wenigen Zentren des Landes vernachlässigt. Industrialisierung war das Zauberwort. Dennoch schufen sie ein Schulsystem, das auch die Kinder in den abgelegensten Landesteilen erreichte. Noch beträgt die Alphabetisierungsrate über neunzig Prozent, doch das System droht zu zerbrechen: Die Schulen in den Provinzzentren werden schlecht geheizt und instand gehalten, viele Familien wollen oder können das neue Schulgeld nicht bezahlen. Und manche Eltern fürchten, daß die Schule oder gar ein Studium in Ulan Bator ihre Kinder dem Leben auf dem Land entfremdet.

Das Land ist geprägt vom Nomadentum und dem wiedererstarkenden Buddhismus und Schamanismus. Mitarbeiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung brachten die Idee von Genossenschaften in die Mongolei. Gemeinsam sollten sich mehrere Nomadenfamilien einen Lastwagen leisten können, um ihre Produkte auf die Märkte in Ulan Bator oder den regionalen Zentren zu bringen. Ganchujag, Vorsitzender einer Viehhaltervereinigung, drang jedoch darauf, die Mindestzahl der Mitglieder auf neun, statt – wie in der deutschen Vorlage – auf sieben festzulegen. Die Sieben ist im Buddhismus eine Unglückszahl, die Neun dagegen verspricht Glück und Erfolg.

„Vor allem die Menschen vom Land sind nicht daran gewöhnt, tagein, tagaus für acht Stunden zu arbeiten. Sie arbeiten hart, wenn das Wetter und die Jahreszeit es erfordern, aber dann ist auch wieder Ruhe“, setzt Fred Fokker von der Adenauer-Stiftung auseinander.

Im Spätherbst, wenn das Vieh für den Wintervorrat geschlachtet wird, können die Verhandlungen über Mengen und Preis oft Stunden dauern. Käufer und Verkäufer sitzen sich in der Jurte gegenüber, trinken Wodka und gesalzenen mongolischen Milchtee.

Chimidtseren, ein Käufer, kommt aus Ulan Bator und soll nicht nur kaufen, sondern auch etwas vom Leben in der Metropole berichten. Schließlich einigt man sich, und alle gehen hinaus, um ein paar geeignete Tiere aus der Herde auszuwählen. Noch ein paar Stunden später, nach dem Schlachten und Ausnehmen, lädt Chimidtseren vier Schafe und ein Rind auf seinen Lastwagen. Über eine holprige Lehmpiste, neben der Eisenbahn die Hauptverkehrsverbindung zwischen Ulan Bator und Peking, geht die Fahrt zurück in die Hauptstadt, wo das Fleisch auf einem der zahlreichen Balkone sozialistischer Plattenbauten eingefroren wird. Temperaturen über null Grad sind frühestens im April wieder zu erwarten.

Im vergangenen Jahr wuchs die mongolische Wirtschaft erstmals wieder seit der Wende um beachtliche sechs Prozent, vor allem aufgrund hoher Preise für Kupfer und Kaschmir, der beiden wichtigsten Exportgüter des Landes. Das Kupferkonzentrat aus einer einzigen Mine bei Erdenet, im Norden des Landes gelegen, machte 1995 knapp die Hälfte des Exporteinkommens aus. Außerdem zahlte das Unternehmen, ein russisch- mongolisches Joint-venture, ein Fünftel aller Steuern in den mongolischen Staatshaushalt ein.

1996 erscheint dagegen eher als das Jahr der Katastrophen: Die Preise für Kaschmir und vor allem Kupfer sind stark gefallen, im Frühjahr zerstörten Waldbrände das Land, im Sommer schreckte eine Choleraepidemie die Touristen ab. Immerhin 6.000 waren im Jahr zuvor in das Land der Reiterhorden-Romantik gekommen.

Neben einer recht einseitigen Weltmarktabhängigkeit bezieht die Mongolei ihre Devisen vor allem über ausländische Entwicklungshilfe. Diese Art der Finanzierung hat in der Mongolei Tradition. Vor 1990 finanzierten die Russen bis zu 40 Prozent des Staatshaushalts. Elf Milliarden Transferrubel Schulden sind das Erbe.

Auch die neuen Helfer aus den westlichen und asiatischen Industrieländern zeigten sich großzügig. Auf der letzten Hilfskonferenz im Februar 1996 in Tokio sagten bilaterale und multilaterale Geber (vor allem Japan, Deutschland und die USA) Entwicklungskredite in Höhe von 212 Millionen US-Dollar für das laufende Jahr zu. Das entspricht etwa einem Viertel des Bruttoinlandproduktes der Mongolei von 1995.

Ausländische Investoren für die Mongolei zu interessieren dürfte auch der neuen Regierung nicht leichtfallen, selbst wenn sie 100 Prozent ausländisches Eigentum in vielen Sektoren ermöglichen und die Gewerbesteuer senken sollte. Am meisten haben bisher japanische Geschäftsleute investiert. In den letzten fünf Jahren brachten sie immerhin elf Millionen US- Dollar ins Land. Aus Deutschland flossen im gleichen Zeitraum erst drei Millionen US-Dollar an privaten Investitionen.

Für inländische Investitionen sind die extrem hohen Kreditzinsen von vier bis zehn Prozent monatlich bei kurzen Rückzahlungsfristen das Hauptproblem. Gleichzeitig sitzen die zwölf privaten Banken der Mongolei wegen fehlender Kontrollen, aber auch aus professioneller Unerfahrenheit auf einem Haufen fauler Kredite. Im kommenden Jahr soll daher der gesamte Bankensektor mit Hilfe der Asiatischen Entwicklungsbank reformiert werden.

Ein Pluspunkt für die mongolische Wirtschaft ist zwar, daß die USA auf den Import mongolischer Waren – anders als gegenüber fast allen anderen asiatischen Staaten – keine Zölle erheben. Doch läßt allein die Infrastruktur der Mongolei derart zu wünschen übrig, daß die Abwicklung größerer Warenmengen ein ernsthaftes Problem darstellt. Die eingleisige Bahnstrecke nach Süden zu den chinesischen Häfen, über die die Mongolei ihren Außenhandel abwickelt, hat eine von der chinesischen verschiedene Spurweite. An der Grenze dauert es sechs bis acht Stunden, ehe die Fahrt weitergeht. Nach Norden gelangt man mit dem Zug nach Irkutsk, daneben gibt es in dieser Richtung eine asphaltierte Straße. Insgesamt sind in dem riesigen Land, vereinhalbmal so groß wie das vereinigte Deutschland, nur 1.300 Kilometer Straße asphaltiert.

„Wir wollen möglichst schnell neue Straßen bauen“, bekundet Ganbold den Willen der Regierung. Von welchem Geld? Darauf weiß auch der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses so recht keine Antwort. „Wir hoffen, daß wir ausländische Unterstützung erhalten.“ Doch das Problem, wie bei den gegebenen klimatischen Verhältnissen, der dünnen Besiedlung des Landes und dem geringen Wirtschaftsaufkommen ein solches Projekt rentabel umgesetzt werden kann, wird auch mit ausländischer Hilfe schwer zu lösen sein. Der Weg ins 21. Jahrhundert bleibt vorerst holprig.