Der Amtsschimmel im Galopp

Edmund Ballhaus, Volkskundler an der Universität Göttingen, erforscht die Bürokratie im Alltag und will den Politikern die Augen öffnen für die Diktatur des Beamtenapparats in Deutschland  ■ Von Gunnar Leue

Es trug sich zu morgens halb zehn in Deutschland: Ein Mann reißt auf seinem Grundstück eine alte Mauer ab, läßt den Steinhaufen aber aufgrund wichtigeren Tuns vorerst liegen. Woraufhin ihm einige Wochen später ein Behördenschreiben ins Haus flattert, in dem er zum sofortigen Wegräumen seiner illegalen Sondermülldeponie aufgefordert wird. Weil der Gemahnte sich keineswegs an die Arbeit macht, kommt es nach Monaten zu einer Ortsbesichtigung – und zu einer radikalen Wende in der Sache, nachdem ein aufmerksamer Beamter eine Blindschleiche und Eidechsen entdeckt. Im nunmehrigen Fall für die Naturschutzbehörde erklärt diese den vormals anstößigen Müllhaufen zum Biotop. Inbegriffen ist selbstverständlich das Verbot, die Steine wegzuschaffen. Bei Androhung von Strafe.

Ob es zu der kam, ist nicht überliefert. Allein so eine Prozedur mitzumachen ist jedoch Strafe genug. In der Bundesrepublik trifft sie immer mehr Leute. Einer, der das ziemlich genau weiß, ist Dr. Edmund Ballhaus, Volkskundler an der Universität Göttingen. Er sammelt im Rahmen eines Forschungsprojekts Beispiele von Bürokratie im deutschen Alltag.

Dabei geht es dem Mann gar nicht um die hanebüchenen Geschichten, sondern um „das Konkrete hinterm Schlagwort von der Ohnmacht der Bürger“. Ballhaus interessieren jegliche Bereiche, wo die Bürger mit Bürokratie zusammentreffen. Und davon gibt's zunehmend mehr. Ob Straßenverkehr, Sozialleistungen, Hausbau, Heirat oder Umweltschutz – alles wird mit einem immer dichter werdenden Paragraphennetz überzogen. Vor der deutschen Regelungsflut gibt es kaum noch ein Entrinnen, und das betrifft auch die Beamten selbst. „Wenn sie sich in dem Geflecht von Regeln verfangen und hilflos die größten Absurditäten verordnen“, so der Bürokratieforscher, „ist das für die Betroffenen meist gar nicht mehr skurril, sondern bereits existenzbedrohend.“

Welche tragischen Folgen es haben kann, wenn die Festlegung einer Ordnungswidrigkeit ganz im Ermessen der Beamten liegt, zeigte sich in Niedersachsen. Als eine 87jährige Witwe, die regelmäßig das Grab ihres Mannes pflegte, von der Friedhofsverwaltung einen Mahnbrief erhielt, traf sie vor Schreck der Schlag. Die Beamten hatten die umgehende Herrichtung des ihrer Meinung nach ungepflegten Grabes verlangt und nicht vergessen zu erwähnen, daß ansonsten die Grabstätte geräumt werden könne.

Wo auch immer die deutsche Ordnung gefährdet zu sein scheint, der zuständige Beamte hält sich in der Regel selbst dann an Recht und Gesetz, wenn die Vernunft dabei auf der Strecke bleibt. „Gerade wenn der Beamte selbst nicht mehr durchblickt“, folgert Ballhaus aus seinen über 150 zusammengetragenen Fällen, „sagt er sich erst mal: Im Zweifel für den Staat. Da kann ich nichts falsch machen und kriege keinen auf den Deckel.“ Leider jedoch könnten die betroffenen Bürger das plötzliche Problem nicht einfach als schlechten Witz abtun. Sie seien in der „Bringpflicht“, die Beamten dagegen „ordnen an und warten gelassen ab“. Sie könnten sich bei einem Rechtsstreit vor den angerufenen staatlichen Instanzen ohne Risiko vertreten lassen. Im Gegensatz zum Bürger. Wenn der nicht klein beigeben will, bleiben ihm Mühen und Kosten (für den Anwalt) nicht erspart.

Unter der Bürokratie zu leiden haben alle, vom Sozialhilfeempfänger bis zum Unternehmer, der auf dem Weg zum Investitionsprojekt einen Genehmigungsmarathon absolvieren muß. „Leute, die gern etwas Neues machen würden, fühlen sich doch gleich gelähmt, wenn sie nur daran denken, daß sie dann wieder 80 Formulare ausfüllen müssen“, weiß nicht nur Ballhaus. Leider gibt es keinen internationalen wissenschaftlichen Vergleich, ob die deutschen Beamten besonders prädestiniert sind für den Unsinn im Amt.

Eine Auflockerung des vertrackten Verhältnisses Bürger-Bürokrat wird jetzt in Berlin versucht. Dort wurde erstmals im Bezirk Hellersdorf ein Bürgerbeauftragter berufen, der die Rechte der Einwohner gegenüber den Behörden vertreten soll. Vorbild ist der aus Skandinavien bekannte Ombudsmann. Der spezielle Dienstleister soll nicht nur für eine raschere Bearbeitung von Beschwerden sorgen, sondern auch schlampigem oder rigidem Verhalten von Beamten nachgehen. Sein Vorgesetzter, der Bürgermeister Uwe Klett (PDS), sieht das als ein „Experiment im Rahmen der Verwaltungsreform“. Auch für mittelständische Unternehmen, die Zoff mit den Behörden haben, gibt es in der Hauptstadt seit kurzem eine Anlaufstelle. Eine Eingreiftruppe „Task Force“ bei der Industrie- und Handelskammer soll bedrängten Mittelständlern leichter den Weg durch den Behördendschungel bahnen.

Derweil hofft Edmund Ballhaus, daß seine Bürokratiesammlung manchen Politikern die Augen öffnet, daß der „Beamtenapparat offenbar zu einer Macht im Staat geworden“ ist, von der sich der Bürger bedroht fühlt. Gelegentlich aber trifft die Beamten ihre Pedanterie auch als Bumerang. Nämlich wenn sie selbst von Besserwissern genervt werden. Diese „besseren Beamten“ seien nicht alle geborene Nörgler, sagt Ballhaus. „Manche werden erst durch den Zwang der Ereignisse dazu. Sie haben sich notgedrungen auf das gleiche Umgangsniveau begeben.“