„Die leben nur noch in entsetzlicher Angst“

■ Wanda Wahnsiedler von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte fordert, daß Deserteuren aus der ehemaligen Roten Armee in Deutschland Asyl gewährt wird

Wanda Wahnsiedler, 48, arbeitet bei der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). Sie ist zuständig für Sonderbereiche, unter anderem für Menschenrechte in den Armeen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

taz: Nach ihrer Flucht aus der Westgruppe mußten die Offiziere erst bei den Geheimdiensten auspacken. Im vergangenen Jahr wurden dann die Asylanträge der meisten von ihnen abgelehnt. Was erwartet sie nach einer Abschiebung in die GUS?

Wanda Wahnsiedler: Diese Leute werden in Rußland angeklagt wegen Fahnenflucht, Staatsverrat und Spionage. Nach dem neuen russischen Strafrecht, das seit dem 1. Januar 1997 gilt, steht auf Staatsverrat jetzt nicht mehr die Todesstrafe, sondern Freiheitsentzug bis zu 20 Jahren, verbunden mit einer Vermögenskonfiszierung. Spionage wird auch mit Haft bis zu 20 Jahren bestraft.

Sind Ihnen Fälle von Verurteilungen bekannt?

Uns sind insgesamt zehn Fälle von ehemaligen Offizieren der Westgruppe bekannt, die in Rußland wegen Fahnenflucht, Staatsverrat und Spionage für Deutschland und die USA zu zehn und mehr Jahren Haft strengen Vollzugs verurteilt worden sind. Sie befinden sich im Straflager Perm im Südural. Einer von ihnen ist der Pilot Dmitri Gorschakow. Er war 1992 aus der Westgruppe geflohen und wurde dann von KGB-Abfangtruppen nach Rußland entführt. Einer Korrespondentin der Deutschen Welle, die im Sommer nach Perm gereist war, wurde von einem ehemaligen Häftling bestätigt, daß Gorschakow und andere Offiziere im Lager einsitzen. Als sie selbst die Gefangenen im Straflager besuchen wollte, wurde ihr das verweigert.

Die Westgruppe war multinational. Was passiert, wenn ein geflohener Offizier Bürger eines GUS-Staates, etwa der Ukraine, ist und abgeschoben wird?

Am 22. Januar 1993 ist eine Konvention in Kraft getreten, die die Auslieferung Straffälliger zwischen den GUS-Staaten regelt. Danach müssen die ehemaligen Angehörigen der Westgruppe, wenn sie zurückkommen, an die Militärstaatsanwaltschaft des Moskauer Militärkreises überstellt werden. Uns liegen amtliche Dokumente der Militärstaatsanwaltschaft vor, daß diese Verfahren bis zur Ergreifung der Personen ruhen. Außerdem haben wir Hinweise aus dem Schriftverkehr zwischen den Offizieren hier und ihren Verwandten in der GUS, aus denen hervorgeht, daß die Angehörigen in der GUS überwacht werden. Ständig fragen die Behörden nach, wann denn der Betreffende zurückkommt.

Die Tatsache, daß den Offizieren in Rußland jahrelanger Knast droht, scheint die deutschen Behörden wenig zu beeindrucken. Das Argument für die Ablehnung lautet doch immer, daß Fahnenflucht kein hinreichender Asylgrund sei.

Rußland ist noch kein Rechtsstaat, sondern erst auf dem Weg dorthin. Das wird noch Jahrzehnte dauern. Solange das System noch nicht demokratisch ist und Rußland so einen schrecklichen Gulag hat, wäre es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, diese Leute an Rußland auszuliefern. Deshalb muß man ihnen aus humanitären Gründen Asyl gewähren.

Die Betroffenen haben gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge Klage eingelegt. Eine Entscheidung steht oftmals noch aus. Wie ist da die Stimmung bei Ihnen?

Entsetzlich. Die leben nur noch in entsetzlicher Angst. Da herrscht ein immenser psychologischer Druck. Fast fünf Jahre lang sind die Asylanträge überhaupt nicht bearbeitet worden. Da herrschte völliger Stillstand. Dann hagelte es Ablehnungen. Und in der Regel sind die Offiziere zusammen mit ihren Familien geflohen. Deshalb stand all die Jahre die ganze Familie unter Druck. Vielfach mußten sich die Ehefrauen in psychotherapeutische Behandlung begeben. Interview: Barbara Oertel