Das hohe C und die Gänsehaut

■ Gleich sechs Goldkehlen aus Italien versuchten, bei „O sole mio – Festival der Tenöre“ am Samstag im CCB Carreras & Co. nachzueifern – mit Erfolg

„Das muß so richtig ... boooahh! ... und dann mußt du eine Gänsehaut kriegen!“ – die Besucherin vor mir hatte die richtigen Worte gefunden für dieses „Festival der Tenöre“, das am Samstag abend im Kongreßzentrum stattfand. Luciano Pavarotti, José Carreras und Placido Domingo haben mit ihrer gemeinsamen Tournee vorgemacht, was es heißt, mit dem „Gold in der Kehle“ jenseits des musikalischen Kontextes und damit ästhetischen Sinnes – sie singen sogar mehrstrophige Arien zu dritt: jeder eine Strophe – viel Kohle zu machen.

Wolf Rosenberg, einer der großen Kenner des Gesanges, hätte sich nicht träumen lassen, welchen absurden Wahrheitsgrad seine schon 1968 ausgesprochene Ahnung haben würde: „Das Extrem, auf das in der letzten Zeit hingesteuert wird, ist ein Kult mit Stimmen, wie er nie zuvor möglich war. Die Forderungen gehen allein ans Material; man spricht nur noch vom Gold, Silber, Metall oder was sonst noch in ihr stecken möge (...) All dies hat dazu geführt, daß der Unterschied zwischen einem Stimmbesitzer und einem Sänger weithin unbekannt ist; daß jeder italienische Fortissimo-Tenor, gleich ob er singen kann oder nicht, ein zweiter Caruso genannt wird“. Aber gehen wir noch weiter zurück, Theodor W. Adorno sagte 1956: „Heute wird das Material als solches, bar jeglicher Funktion gefeiert. Eine Stimme muß nur noch besonders dick oder besonders hoch sein, um den Ruhm ihres Eigentümers zu legitimieren“.

Auf der Welle der großen drei Italiener, von denen hier nicht behauptet werden soll, daß sie nicht auch fabelhaft singen können, schwimmen nun auch andere mit: Gleich sechs ließen sich nicht lumpen und sangen immerhin zwanzig Arien und am Ende – Boooaaah! „O solo mio“ zu sechst. Wahnsinn. Da die Komponisten ihre ungeheuren Anforderungen – „ganz schwer zu singen, ganz schwer“, wußte die goldbehängte Dame vor mir – in den Dienst einer inhaltlichen Aussage gestellt haben, hat das Ganze mit Musik wenig zu tun. In dem Glanzpapierprogrammheft gab es nicht einmal Texte.

War auch nicht nötig, denn einige Frauen im Publikum bewegten ihre Lippen tonlos, sangen also – besonders bei Puccini – hingebungsvoll mit. Männer sind da sachlicher: „Also ich bin ja Spezialist. Das hier sind ja ganz normale Sänger, aber man kann nicht sagen, daß es irgendwelche Hergelaufenen sind ...“

Wir hörten vor kundigem Publikum – „Den haben wir schon gehört“ – „Den kenn ich“: Aldo Filistad, der aus unerfindlichen Gründen mit seinem Schlußton fluchtartig die Bühne verließ, den jungen Giacomo Mosca. Raffaele Guise, der seine schwere Stimme mit heftigen Dirigierbewegungenin Flexibilität zu bringen versuchte, und Franco Tisi, der mit der Bizetschen „Blumenarie“ den einzigen französischen Beitrag brachte sowie Volker Horn, der das deutsche Heldenfach mannhaft vertrat, und Michele Tiziano, der mit erhobener „Becker-Faust“ sein hohes C präsentierte, das der Komponist Guiseppe Verdi in der Troubadour-Arie gar nicht komponiert hat.

Es ist hier nicht der Ort, einzelne Kritik an den Stimmen zu üben, denn nicht einmal die wurden in einer erkennbaren Systematik präsentiert. Man hätte ja beispielsweise die italienischen Fächer vorstellen können, von den Koloraturanforderungen eines Rossini bis zum schweren Heldenfach eines Verdi mit der Rolle des Othello. Aber hier sangen alle mehr oder weniger das gleiche Fach für eben die zwanzig Arien von Puccini, Verdi und Leoncavallo.

Die Stimmen unterschieden sich wenig voneinander, und es wurde auch keinerlei Wert auf Genauigkeit der Partitur gelegt, also auf Nuancierung von Stimmfärbung. Das wiederum hängt nun mit dem zusammen, was Wolf Rosenberg schon sagte. Gold in der Kehle haben wir gehört, aber zu wenig von dem, was die weltberühmte Gesangstradition des sogenannten „Bel Canto“ der Italiener auszeichnet: Geläufigkeit der Stimmführun-gen, substanzvolle Pianotöne, die nicht wie hier im Falsett gehaucht werden, das berühmte „messa di voce“, das heißt das regelmäßige An- und Abschwellen eines Tones, eine Technik, an der ein Caruso sein Leben lang übte. Letzteres ersetzten abrupte Registerwechsel.

Was hier zu hören war, reichte aber offensichtlich für die Gänsehaut und bewies auch das 1850 von Hector Berlioz geäußerte Diktum: „Wißt Ihr nicht, daß der Tenor kein Wesen von dieser Welt ist? – Er ist ein Wesen für sich“.

Begleitet wurden die sechs Kehlgoldbesitzer von dem mehr als müde spielenden Orchester der Staatsoper Charkow, deren Dirigent Silvano Frontalini vor allem aufpassen mußte, wie lange die Herren ihre hohen Töne zu halten gedachten. Zu musikalischer Gestaltung war da wenig Platz. Schunkeln bei „La Donna e mobile“ stand schließlich an und stehende Ovationen im halbvollen Saal.

Ute Schalz-Laurenze