Niedere Thiere und Hohe Kunst

5.000 Schnecken als Gesamtkunstwerk: „Zuspiel“, eine sich fortpflanzende Installation der Künstler Georg Herold und (e.) Twin Gabriel im Berliner Haus am Waldsee. Manche klumpen zusammen, andere gehen die Decke hoch  ■ Von Brigitte Werneburg

Der Kalauer drängt sich einem beim Rundgang durch das Haus am Waldsee förmlich auf: Georg Herold und (e.) Twin Gabriel machen die Kunst zur Schnecke. Ob das im Sinne des Kulturprogramms der Firma Siemens ist, die unter dem Titel „Zuspiel“ jeweils einen international bekannten Künstler zum sinnstiftenden Dialog mit einem jüngeren Künstler anregen will, steht nicht zur Debatte (gilt Siemens' Sorge momentan doch eher den argwöhnischen Tierschützern.) Nachdem Ayșe Erkmen und Andreas Slominski im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart den Anfang machten, ist das Berliner „Zuspiel“ zwischen Herold und dem Künstlerpaar unter dem Zwillingslabel das mittlerweile vierte in der Ausstellungsreihe.

Rund 5.000 Exemplare der „Großen Grauen“, einer Unterart der Weinbergschnecke (Helix pomatia), bevölkern derzeit die Räume der Villa im Berliner Südwesten. Nach dem Ende der Ausstellung sollen sie im Süden Italiens neu angesiedelt werden. Zwischen Salatblättern, Kohlköpfen, Weintrauben und überlebensnotwendigen Wasserlachen klumpen sich die Bauchfüßler in den Zimmerecken zu braun-grauen Haufen zusammen, an anderen Stellen gehen sie recht agil die Decke hoch. Lange, silbern schimmernde Schleimspuren markieren ihre Routen, weg vom Mondrianmuster der bunten Plastikplatten, auf die sie zunächst von den Künstlern ausgesetzt wurden. Der Anblick ist gewöhnungsbedürftig und interessant zugleich. Denn schön möchte man die Gastropoden oder Mollusken nicht nennen.

Dabei ist es ja nicht so, daß Schnecken in der Kunst noch nie aufgetreten wären. In den Blumen- und Früchtestilleben der Niederländer fand sich schon immer die eine oder andere Schnecke oder Raupe versteckt. Der Reflex auf die Wirklichkeit, in der das Unförmige umstandslos neben dem Wohlgeformten lebt, erhöhte schließlich den Reiz des malerischen Arrangements der Nature morte.

Der Kalauer wäre also nur einer der Bälle im zirzensischen Spiel der „Artisten, Tiere, Sensationen“. Die anderen könnte man als Listen benennen, Obsessionen, als anekdotische Ausflüge in Kunst und Wissenschaft.

Die Geschichten muß sich der Besucher allerdings selbst zusammenreimen, denn die karge Installation gibt wenig Hinweise. Außer Schnecken sind noch zwei an die Wand vergrößerte Stiche aus einer Molluskensammlung des 18. Jahrhunderts zu finden, ein kleines grünes Zierbäumchen, ein mit Ziegelsteinen umgrenzter Erdhaufen und zwei Duschgarnituren. Einmal an einem rohen Balken gehängt und das andere Mal an einem Notenständer, setzen sie vollfunktionsfähig zwei Räume im Erd- und Obergeschoß unter Wasser. Auch wenn das Arrangement an Georg Herold denken läßt, ist das Zuspiel der beteiligten Künstler bewußt so eng geführt, daß man nur vermuten kann, wem welcher Spielzug zuzuschreiben wäre.

Aber wie einmal ein anderer, bayerischer Kunstjongleur zu Recht behauptet hat: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Heutzutage bekanntlich dem Rezipient genannten Betrachter. Er mag die Schnecken im gleichen Sinne als Kunstmaterial deuten wie den Kaviar als Malmaterial zu Zeiten von Georg Herolds „Geld spielt keine Rolle“-Werk. Oder er mag im Liebesspiel der Schnecken eine Variante der Autoperforationsartistik entdecken. Für diese Form kollektiver Aktionskunst (mit Micha Brendel, Rainer Görß, Via Lewandowsky und Durs Grünbein) war in den späten DDR-Zeiten Else Gabriel bekannt und berüchtigt, bevor sie ab 1990 mit Ulf Wrede die „Plastische Planung“ gemeinsamer Kunstprojekte begann.

Die Schnecken nämlich, so zeigt es auch einer der zwei Stiche, beginnen ihr Liebesspiel, indem sie kleine Kalkpfeile aufeinander abschießen. Die sind, wie Brehm beziehungsweise Oskar Schmidt, der Bearbeiter des Bandes über die wirbellosen Tiere sagt, „einigermaßen wie ein Bajonett gestaltet“ und dringen, „wenn alles richtig vonstatten geht, gegenseitig in die Geschlechtsorgane ein“. Das läßt an Else Gabriels Definition der Selbstlöcherung als Mittel „zum Unschädlichmachen von Gefühlsüberschuß“ denken.

Überhaupt sind die Schnecken mit ihrem Gehäuse „verkehrt gewunden, alle links, Revolutionisten vom Eie an“. Das bestätigt auch der weitere Verlauf. Weil sie Zwitter sind, kann das gegenseitige Löchern ungeahnte Ausmaße annehmen. Während ein Individuum als Männchen fungiert und das andere als Weibchen, kann bei „dieser Gelegenheit das erste Männchen, für ein drittes zum Weibchen (werden) und so fort, so daß sechs bis acht Individuen kettenartig vereinigt sind, wo dann das unterste bloß als Weibchen, das oberste als Männchen, die mittleren in beiden Richtungen fungieren“.

Damit erweisen sich die aus LaRochelle und Lille eingeflogenen Protagonisten als hervorragendes, selbstregulatives skulpturales Material und als kunstreflexives Paradox in Hinblick auf die „Plastische Planung“ – immerhin bewegen sie sich ganz nach eigenem Gusto, wenn auch im Schneckentempo. Ein Zuspiel nach allen Regeln der Natur.

Bis 26. 1. im Haus am Waldsee, Berlin. Ein Katalog erscheint im Januar