Beten für die germanische Artgemeinschaft

Sind die neugermanisch-heidnischen Sekten eine Gefahr für die Demokratie? SPD-Bundestagsabgeordnete meinen, ja, die Bundesregierung hingegen hält ihre Existenz für unbedeutend. In Berlin soll es bis zu 25 Gruppen geben  ■ Von Philipp Gessler

Sie schwafeln von „Rassereinheitsgeboten“ und „Erbgesundheitspflege“, wollen die „nordische Rasse“ stärken und erhalten, erhitzen sich an der „germanischen Mädchenerziehung“ und „germanischem Zuchtwillen“: neugermanisch-heidnische Gruppen. Lange Zeit wurden sie von Öffentlichkeit und Politik vernachlässigt, aber sie sind da und kommen mal esoterisch, mal „völkisch“ daher. Meist aber sind sie schlicht neonazistisch, rassistisch sowie antisemitisch – und offenbar im Kommen.

Das jedenfalls meinen die beiden SPD-Bundestagsabgeordneten Renate Rennebach und Siegfried Vergin, die die bräunlichen Germanen-Truppen seit Jahren beobachten. Sie warnen vor ihrem Einfluß auf die „intellektuelle“ sogenannte Neue Rechte etwa eines Jörg Haider in Österreich und vor einer europaweiten Vernetzung der Scharen aus dem germanisch- heidnischen Ursumpf.

Sind diese Befürchtungen gerechtfertigt? Das ist auch unter Experten umstritten, denn es liegen noch nicht mal zuverlässige Zahlen darüber vor, wie viele dieser Gruppen es in Deutschland gibt oder wie viele Mitglieder sie zählen. Zwanzig bis fünfundzwanzig dieser Gruppen soll es allein in Berlin geben, aber sehr viel mehr weiß man nicht. Nur für einzelne Gruppen haben die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern etwas mehr herausbekommen:

Da ist beispielsweise die „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V.“. Sie bezeichnet sich selbst als „Glaubensbund“ und wird geleitet vom Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger, einer schillernden Figur, die überall auftaucht, wo germanisch-nazistisch getümelt wird. Verfassungsschutzberichte des Bundes und Niedersachsens sehen in ihm einen Rechtsextremisten oder Neonazi. Er war noch im vergangenen Jahr Vortragsredner bei mehreren neuheidnischen oder rechtsextremistischen Gruppen. In seiner Schrift „Rasse – ein Problem auch für uns“ vertritt er die These, daß einige Rassen mehr zu Verbrechen neigten als andere.

Die Ziele der „Artgemeinschaft“: Sie will die Kultur einer nordeuropäischen Menschenart bewahren und erneuern, an die Vorstellungen der heidnischen Vorfahren anknüpfen und „Artverwandte nordischen Menschentums“ gewinnen – die vor allem in den Niederlanden, den USA, in England, Skandinavien, Australien, Neuseeland und Südafrika zu finden seien. Die jüdische und die christliche Religion sind dieser Gemeinschaft nur „Aberglaube“.

Die Artgemeinschaft war 1995 Mitveranstalter der sogenannten fünften „Hetendorfer Tagungswoche“ im niedersächsischen Hetendorf – eine Gemeinschaftsveranstaltung, an der seit fünf Jahren vor allem ältere Rechtsextremisten aus ganz Deutschland teilnehmen. Das Treffen hat offenbar bundesweite Bedeutung, da der Hetendorf-Komplex als Schulungsstätte und Treffpunkt rechtsextremer Gruppen gilt. Nach Auskunft Vergins haben die Länder Niedersachsen und Hamburg beim Bundesinnenminister auf ein Verbot des Trägervereins „Heide-Heim e.V.“ hingewirkt, dessen stellvertretender Vorsitzender wiederum Rieger ist. Das Innenministerium hat aber ein solches Begehren abgelehnt, wie Vergin „aus Niedersachsen“ erfahren hat. Ein Mitglied des Trägervereins war auch die mittlerweile verbotene Wiking-Jugend.

Vom Bundesamt für Verfassungsschutz wird die Artgemeinschaft „beobachtet“, das heißt, der Inlands-Nachrichtendienst sammelt gezielt Informationen und wertet sie aus. „Beobachtet“ wird auch die „Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung e.V.“ (Gfb AEV), die ebenfalls von Rieger geleitet wird und rassistische Thesen vertritt.

Der Hamburger Advokat, der in fast allen größeren Prozessen gegen Neonazis als Rechtsbeistand zur Hilfe gerufen wird, wurde erst vor einigen Wochen wegen der Verwendung von NS-Symbolen vom Landgericht Hamburg zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Im hauseigenen Blatt der GfB AEV Neue Anthropologie wird seit Jahren krudester Rassismus feilgeboten: Jeder Mann begehe „biologischen Verrat“, der eine Partnerin „fremder Rasse“ heiratet und „Kinder anderer Rassen adoptiert und in unseren Lebensbereich bringt, so daß dadurch die Bastardisierung hier gefördert wird“.

Solche Informationen konnten sich noch Anfang Dezember Studenten am „Humanbiologischen Institut“ der Universität Hamburg verschaffen – die Tatsache, daß Riegers Blatt dort auslag, sorgte für einen heftigen Streit zwischen Studenten und Professoren. Auch sonst war die Gfb AEV in den Schlagzeilen. Die rund siebzig Personen große Vereinigung verlegte 1995 ihren Sitz von Ellerau in Schleswig-Holstein nach Moholm in Schweden. Für seinen schwedischen Standort erhielt Rieger gar Anfang Oktober vergangenen Jahres 225.000 Mark aus einem EU-Topf. Darauf angesprochen, mußte die Bundesregierung in einer Fragestunde zugeben, daß „sie erst jetzt die Angelegenheit prüft“.

Bei der Gfb AEV scheint auch eine europaweite Zusammenarbeit am ehesten nachweisbar: So nannte die Gfb-AEV-Publikation Neue Anthropologie den Franzosen Alain de Benoist als Mitglied ihres „wissenschaftlichen Beirats“. De Benoist hat das Buch „Heide sein – zu einem neuen Anfang?“ geschrieben, wie andere seiner Werke erschienen im deutschen Grabert-Verlag, der dem Bundesverfassungsschutzbericht zufolge als Vertriebsprogramm von Büchern rechtsextremistischen Inhalts zu charakterisieren ist. Der französische Intellektuelle gilt als ein führender Vertreter der Neuen Rechten Frankreichs.

Wächst da eine intellektuelle Rechte aus den neugermanisch- heidnischen Gruppen mit Verbindungen in ganz Europa heran? Sind sie eine Gefahr für die Demokratie? Klar ist zumindest, daß in manchen Gruppen durchaus intellektuelles Potential vorhanden ist, wie etwa beim „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff) e.V.“ (BfG), der 1937 gegründet wurde. Die führenden seiner 240 Mitglieder gehören akademischen Berufen an. Unklar ist die Zahl der Sympathisanten. Beruhigend bloß, daß der Altersdurchschnitt im Verein siebzig bis achtzig Jahre beträgt.

Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Eduard Lintner (CSU), spielt deshalb die Gefahr herunter, die von diesen Gruppen ausgeht. Sie hätten nur „geringe Bedeutung“ und verfügten in der rechtsextremistischen Szene kaum über Einfluß. Zwar seien sie bisher, abgesehen von Ausnahmen, kein spezieller Gegenstand der Aufklärungs- und Informationsarbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder des Bundesinnenministeriums. Dennoch achte man sorgfältig auf die Szene und habe eine „relativ genaues Bild“ davon, was passiere.

Eine „größere Gefahr“ für die innere Sicherheit sei nach diesen Informationen nicht zu erkennen und zeichne sich auch nicht ab. Es handle sich schließlich um relativ kleine Gruppen, die zumeist gar nicht nach außen aktiv seien, sondern sich nur um ihr esoterisches Innenleben kümmerten – nach außen gerichtetes Handeln aber sei Bedingung etwa für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Erkenntnisse über Tendenzen zur Gewaltbereitschaft lägen nicht vor, sagt Lintner. Auch eine „programmbildende oder strategische Bedeutung“ für die rechtsextreme Szene sei nicht zu erkennen.

Doch die Bundesregierung räumt ein, daß in einigen neugermanisch-heidnischen Gruppen gleichwohl Rechtsextremisten aktiv sind. Auch Verbindungen zwischen den neugermanisch-heidnischen Gruppen gebe es: vor allem deshalb, weil manche Mitglieder gleich in mehreren solcher Gruppen aktiv sind. Teilweise gebe es auch eine Zusammenarbeit mit rechtsextremistischen Organisationen.

Rennebach, Sektenexpertin der Bonner SPD-Fraktion, kritisiert, daß die Bundesregierung die Gefahren durch neugermanisch-heidnische Gruppen „fahrlässig unterbelichtet“. Diese Gruppen würden lediglich als eine „Volkstanzgruppe der Neuen Rechten“ begriffen oder gar „bewußt verniedlicht“ – nach dem Motto: „Ein bißchen völkisch, ein bißchen germanisch, ein bißchen Wikinger – was ist da schon dabei?“ Offenbar sähen viele Konservative die Neue Rechte zudem als willkommenen Flankenschutz ihrer eigenen Politik, ohne sich der Gefahren bewußt zu sein.

Vielleicht sollte zu denken geben, daß auch der Germanen- Schwärmer „Jörg Lanz von Liebenfels“ in den zwanziger Jahren eher als harmloser Spinner galt, ehe der Wiener Postkartenzeichner Adolf Hitler auch aus diesen Ideen sein Weltbild machte. Der Berliner Senat für Jugend und Familie hat in einer Untersuchung über Jugendreligionen und Psychokulte schon 1994 gewarnt: Das aktive Eintreten der neugermanisch-heidnischen Gruppen für völkische und rassistische Ideen mache eine Auseinandersetzung mit ihnen nötig. Es dürfe nicht sein, daß „unter dem Deckmantel der freien Religionsausübung Ungleichheit, Rassismus und das Recht des Stärkeren“ propagiert würden – „und so der demokratische Konsens, der auf der Würde des Menschen basiert, gefährdet wird“.