: Gigantisches Volksfest auf Kufen
Die legendäre Elf-Städte-Tour, eine Schlittschuhfahrt durch das niederländische Friesland, zog nach elf Jahren Pause wieder 16.000 Aktive und eine halbe Million Zuschauer in ihren Bann ■ Aus Leeuwarden Falk Madeja
Jeen van der Berg, 68, ist eine Legende. Er ist Friese durch und durch – nüchtern, rechtschaffen und skeptisch gegenüber Streß und Kommerz. Dem kann er aber nicht entkommen, denn 1954 gewann er den faszinierendsten und romantischsten Eislauf der Welt: die „Elfstedentocht“. Diese Elf-Städte-Tour führt auf Kanälen über zweihundert Kilometer durch die nordniederländische Provinz Friesland. Weil nicht jedes Jahr die Kanäle ausreichend gefroren sind, gab es seit der ersten Fahrt im Jahre 1909 lediglich vierzehn Elf- Städte-Fahrten.
Im Februar 1996 sah es so aus, als könnte Nummer 15 folgen. Tagelang biß sich der Frost in den Kanälen fest. Doch wie oft auch die Eismeister mit Meßstangen die Dicke des gefrorenen Elements prüften und die „Rayonhoofde“, die lokal vor Ort für die Organisation verwantwortlich sind, ihre Köpfe zusammensteckten, letztlich hatte die Tour-Verwaltung zu viel Angst, daß einige der 16.000 Teilnehmer einbrechen könnten. In diesem Jahr aber war es endlich soweit. „It sil heve“ (friesisch: „Sie geht durch“), sagte Kroes am letzten Mittwoch, einen Tag später nannte er den Sonnabend als Austragungstag. Sofort setzte sich eine gigantische Welle aus medialem Jubel in Bewegung, und überall im Land wurden Terminkalender gezückt. Muß ich arbeiten, kann ich am Wochenende nach Friesland fahren und zugucken?
Freitag abend. Die verschlafene Friesen-Hauptstadt Leeuwarden scheint vom Fieber gepackt. Zug auf Zug rollt heran, auf dem Bahnhof spielt eine fröhliche Eisenbahner-Band auf, und immer mehr Menschen strömen in die kleine Stadt mit ihren hübschen Häusern und Grachten. Schon auf dem Bahnhofsvorplatz sehen sich die Elf-Städte-Tour-Touristen, die anschließend zu Zehntausenden die Kneipen und eilends aus dem Boden gestampften Festzelte bevölkern, diversen Angeboten ausgesetzt. Schlafplatz gesucht? Kein Problem – kostet nur 50 Gulden. Auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt ist eine neue Welt aus Buden und Ständen für Hamburger, leckere vietnamesische Snacks und Souvenirartikel herangewachsen.
Samstag morgen, vier Uhr. Es ist eiskalt in Leeuwarden, ein kleines, gemein scharfes Lüftchen weht vor dem FEC, einer großen weiten Halle am Rande der Innenstadt. Hier versammeln sich die Läufer, Frauen und Männer in Neonanzügen, mit Skibrillen und Schlittschuhen unter den Armen. Um 5.30 Uhr soll die Eliteschar der Eisfanatiker starten. 300 Männer und einige wenige Frauen. Im Laufe der darauffolgenden zwei Stunden dürfen die 16.000 Hobbyläufer und -läuferinnen auf die Strecke gehen. Mitgebrachte Klapphocker dienen der Erholung während der letzten Wartestunde.
In der Startreihe eins warten jene Rennläufer, die die besten Plätze besetzt halten. Über die Favoriten gab es in den Tagen davor viele Spekulationen. Wer würde gewinnen? Etwa Viehbauer Henk van Benthem, der Bruder vom 85er und 86er Sieger Evert? Oder der Postbote Piet Kleine, ein riesiger, fast zwei Meter großer Mann? Erik Hulzebosch, ein Kranmaschinist mit großem Ehrgeiz. Oder doch Henk Angenent, ein Rosenkohlzüchter, der kürzlich aufgefallen war, als er bei einem Marathonrennen einem Jurymitglied die Mütze vom Kopf geschlagen hatte. Die Berufe der Rennläufer klingen einfach, und die Männer können vom Eislaufen auch nicht leben. Aber manche Teams geben für die Operation Elfstedentocht bis zu 100.000 Mark aus.
Überhaupt hatte bislang noch nie das Geld so eine große Rolle gespielt wie diesmal. In den elf Jahren seit der letzten Elf-Städte-Tour hat sich die niederländische Medienlandschaft verändert, zig neue TV-Sender berichteten über sämtliche Details rund um die Tour. Die Rechte hält der Gebührensender NOS, der mit 400 Mitarbeitern, 70 Kameras, drei Hubschraubern und drei Motorrädern anrückte. Von morgens an berichtete NOS bis Mitternacht. Insgesamt hatten sich 2.000 Journalisten akreditieren lassen, darunter etwa 100 ausländische. Die NOS läßt sich die Sache ca. eine Million Gulden kosten – und nimmt um die vier Millionen für Reklame ein.
Die Tour-Organisation sieht keinen Cent davon – aus Dünkel gegenüber dem Kommerz. So entgehen den Organisatoren viele Millionen. Immerhin durften erstmals sechs Großsponsoren entlang der Strecke Werbetafeln aufstellen und überwiesen dafür je 250.000 Gulden. Von den geschätzten 25 Millionen Gulden, die die Souvenirindustrie mit T-Shirts, Mützen und Schals verdiente, kriegt die Tour jedoch nicht viel ab. Und auch ein Preisgeld wird nicht vergeben – der Lohn heißt lebenslanger Mythos.
Die Elf-Städte-Tour steht vor einer Zerreißprobe. Die vielen älteren Männer in der Organisationsleitung stehen zweierlei skeptisch gegenüber: Sponsorentum und Hollandismus. Bei der 15. Tour besonders verdeutlicht durch den Einfall des Konzerns Unilever, der Tausende von Fans in orange gefärbte Suppenkasper verwandelte. Die Unilever-Tochter Unox hatte kostenlos Oranje-Mützen verteilt – die Fans liefen kostenlos Reklame. Typisch, brummelten manche Friesen, deren traditionelle Farben Blau und Weiß sind, nicht Orange. Das Unbehagen über die Hollandisierung ist inzwischen so groß, daß ein angeblich 200 Mann starkes Aktionskomitee „Elfstedentocht Nee!“ Mit dem Slogan „Hak en Wak!“ (Hack ein Loch rein!) von einer Brücke im ersten Etappenziel Sneek Streusalz auf das Eis kippte. Es konnte aber rechtzeitig entdeckt werden.
Um 5.30 Uhr zählt die Rennfahrermenge laut die letzten Sekunden und macht sich so Mut vor der 200 Kilometer langen Tortur durch Nacht, Dämmerung und Tageswind. Das Eis ist hart und gut. Immer schneller geht die Hatz, um 6.10 Uhr passiert die Spitzengruppe Sneek, um 6.26 Uhr Ijlts, um 6.47 Uhr Sloten, um 7.30 Uhr Stavoren und dann um 7.58 Uhr Hindelopen. Überall ein ähnliches Bild. Zuschauer hängen von den Brücken, Menschen stehen vor ihrer Haustür, singen, tanzen, lachen – Kapellen an allen Orten. Eine halbe Million Menschen hat sich an den Kanälen eingefunden, und ein Fahrer erzählte später aufgewühlt, daß er wegen der Euphorie in jeder Ortschaft geheult habe.
Piet Kleine, ein alter Haudegen mit lederartigem Gesicht, begeht deshalb in Hindelopen einen verhängnisvollen Fehler. Die Wettkämpfer müssen sich Stempel geben lassen – aber Kleine braust in Hindelopen einfach durch. Hunderte Meter nach der Stempelstelle besinnt er sich – denn er allein ist plötzlich die Spitzengruppe. „Dann dachte ich, zurücklaufen hat keinen Sinn. Ich verdrängte das Problem.“ Kleine, 1972 Olympiasieger, beschäftigt die sich ständig verkleinernde Spitzengruppe mit Ausreißversuchen. Doch ein Mann holte ihn immer wieder ein – Henk Angenent, der 29jährige Rosenkohlzüchter aus Alphen. In Harlingen, wo den ganzen Tag über eine Gruppe Hell's Angels in Lederjacken Erbsensuppe kocht und verkauft, hat die Spitzengruppe 120 Kilometer geschafft. Abwechselnd führend, gleiten sie dahin, hin und wieder fällt einer über einen Buckel im Eis. Übrig bleiben Angenent, van Benthem, Hulzebosch, Kleine, Stam und Verduin – bis ins Ziel in Leeuwarden. Dort zieht nach knapp 200 Kilometern Verduin den Sprint an, Hulzebosch hält gegen, und schließlich zieht Angenent an allen vorbei. Sein Vorsprung nach 200 Kilometern und knapp sieben Stunden: ein Meter. Piet Kleine, der Postbote, der einen Stempel vergaß, wird disqualifiziert. Henk Angenent widmet den Sieg seinem 63jährigen Vater. „Er hat im harten Winter 70 Stunden die Woche auf meinem Bauernhof gearbeitet. Nur so konnte ich so hart trainieren.“ Eine Stunde später kommt mit Klasiena Seinstra die erste Frau ins Ziel. Bei der Siegerehrung weint sie wie ein Schloßhund und sagt: „Mein Satz an alle Frauen. Marathon-Eislaufen ist wunderschön. Ihr müßt es auch machen.“
Nachdem die Wettkämpfer im Ziel sind, ist die Tour noch lange nicht vorbei – sie beginnt eigentlich erst richtig. Die 16.000 Hobbyfahrer quälen sich, so weit es geht, Tausende aber müssen aufgeben oder kommen erst nach Mitternacht ins Ziel. Jeen van der Berg kommt nach 10 Stunden überglücklich ins Ziel. „Nach 1947 meine siebte Tour. Die Zeit ist nicht wichtig, Ankommen aber schon. Ein grandioser Tag!“
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