Das Gedächtnis hinter der Leinwand

■ Aus Zensurlisten und Lebensläufen: Der Verein „CineGraph“ erforscht, was man im Kino nicht sieht

Es rumort im Gedächtnis des deutschsprachigen Films. „Person?“ fragt der Computer, und will den Namen eines Schauspielers oder Regisseurs wissen. Hans-Michael Bock, Leiter des CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V, sitzt vor dem Bildschirm und kann sich kaum für eine Filmgröße entscheiden.

Jemand modernes vielleicht? Oder ein Macher aus seiner Lieblings-Epoche, der Weimarer Republik? Die Auswahl ist groß: Etwa 70.000 Filme sind in der sogenannten CineBase gespeichert, mitsamt Darstellern und Produzenten. Der größte Teil kommt aus Deutschland. Herr über den Informationswust ist Hans-Michael Bock, der Gründer des CineGraph. Er sitzt inmitten des gebündelten Filmwissens und scheint nicht einmal stolz darauf, was er in den vergangenen 16 Jahren aufgetürmt hat. Die Kulturbehörde bezahlt Bock für seine Ideen: Wessen Leinwand-Leben noch unerforscht ist, über wen man eine Filmreihe zusammenpuzzlen könnte, und wer die Projekte bezahlt. Einmal im Jahr veranstaltet der CineGraph einen Internationalen Filmhistorischen Kongreß in Hamburg – Wissenschaftler-Treffen, die sich Ende der 80er Jahre meist archivierte Leidenschaften von Hans-Michael Bock: Vergessene Künstler der Weimarer Republik nämlich. Mittlerweile geht es mehr um Verflechtungen in der Filmindustrie oder exotische Abenteuerfilme. Nach jedem Treffen veröffentlicht Bock die neuen Forschungsergebnisse und stellt eine Reihe von Filmen zusammen, die meist im Hamburger Metropolis-Kino, aber auch in Berlin gezeigt werden. Die Streifen leiht Bock aus anderen Archiven – auch aus solchen, zu denen normale Kinos keinen Zugang haben, beispielsweise in Amsterdem und Moskau. Der CineGraph sammelt keine Filmrollen. „Ich sehe mich als Detektiv, der Realien zusammenstellt“, erklärt Bock, in Gedanken bei alten Zensurlisten und Statistiken, eben im wissenschaftlichen Teil der Filmwelt.

Als Archivar hat der 49jährige Erfahrung: Ende der 70er Jahre begann er, gemeinsam mit anderen Filmforschern Biografien von Schauspielern und Filmemachern zu sammeln und zu verkaufen. „CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film“ hieß diese Loseblattsammlung. Das Lexikon erscheint immer noch, mittlerweile mit fast 800 Lebensläufen. Vom Centrum für Filmforschung ist es inzwischen unabhängig. Lediglich die Lexikon-Daten fließen in die kinnematische Datenbank. Auf die dürfen sich nur Wissenschaftler setzen. Für Laien, die den Lebenslauf ihrer Lieblingsschauspielerin lesen wollen, ist die CineBase nicht gedacht. Außerdem, sagt Bock, sei die CineBase nicht vollständig. Zwar hat er gemeinsam mit anderen Forschern kürzlich alle deutschen Spielfilme aufgelistet. Die Zusammenstellung soll als Teil einer Euro-Filmografie auf CD-Rom veröffentlicht werden. Aber, wiegelt Bock ab, es fehle ja noch die Liste der Dokumentarfilme... Und wenn der Leiter des CineGraph geldmäßig könnte, wie er wollte, würde er eine andere Filmografie basteln: gesammelte Werke der Weimarer Republik.

Judith Weber