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Der Verräter

Er war diszipliniert, diskret, einsatzbereit – kurz: äußerlich total angepaßt an das System. Lange wollte er aus Kuba fliehen, lange wartete er auf seinen Moment, zu rebellieren. Und der kam dann schließlich auch. Eine Erzählung  ■ von Reinaldo Arenas

Ich werde schnell sprechen, so wie es mir in den Kopf kommt. Erwarte also nicht allzuviel von deinem kleinen Apparat da. Und glaub' nur nicht, daß du besonders viel damit wirst anfangen können, was ich dir erzähle, oder es groß aufblasen, dies und das hinzufügen, womöglich ein großes Ereignis daraus machen, um auf meine Kosten berühmt zu werden...

Obwohl – vielleicht ist es sogar besser für dich, wenn ich einfach erzähle, was mir gerade durch den Kopf geht. Kommt womöglich besser an. Und du könntest es besser ausschlachten. Denn du bist der Teufel. Aber wenn du schon mal hier bist mit all dem Aufwand, werd' ich auch reden. Ein bißchen. Nicht zuviel. Nur um dir zu zeigen, daß du ohne uns gar nichts bist. Der Aschenbecher steht da drüben über dem Ausguß, den kannst du benutzen, wenn du willst... Was für ein Aufzug: makelloses Hemd, mit allem Drum und Dran. Ist es aus Seide? Kriegt man jetzt sogar Seide? – Aber du mußt dich hierher stellen, oder setz dich auf den Stuhl da mit dem kaputten Rohrgeflecht – ja, ich weiß, ich könnte das jetzt reparieren lassen... Du kannst mit dem Fragen anfangen.

Was weißt du über ihn? Was weiß überhaupt einer über ihn? Jetzt, nachdem Fidel Castro abgesägt wurde, meinetwegen auch gestürzt, aber vielleicht ist er ja endlich mal müde geworden... Jetzt redet jeder, jetzt kann jeder reden. Das System hat sich wieder geändert – und jeder ist ein Held. Jetzt ist jeder gegen ihn gewesen. Aber damals, als an jeder Ecke Tag und Nacht ein Überwachungstrupp stand und jede Tür, jedes Fenster, jeden Eingang, jedes Licht und jede unserer Bewegungen überwachte, jedes Wort und jedes Schweigen, und was wir im Radio hörten und was wir nicht hörten und wer unsere Freunde waren und wer unsere Feinde, mit wem wir Sex hatten und was für Briefe wir bekamen und was für Krankheiten – und was für Träume... sogar die hat man überwacht.

Das willst du mir nicht glauben? Ich bin eine alte Frau. Denk, was du willst. Ich bin alt und verrückt. Kannst du ruhig weiter denken. Ist besser so. Jetzt kann man ja wieder denken, was man will. Ach, du verstehst mich nicht? Verstehst du nicht, daß man damals nicht denken konnte? Aber jetzt kann man, stimmt's? Ja. Und genau das sollte mich eigentlich beunruhigen, wenn es noch etwas gäbe, das mich beunruhigen könnte. Wenn man laut denken kann, hat man nichts mehr zu sagen. Aber ich sag' dir, sie sind alle noch da. Sie haben alles vergiftet und sind immer noch da. Und alles, was geschieht, geschieht wegen ihnen, für sie oder gegen sie – das jetzt allerdings nicht mehr... jedenfalls aber wegen ihnen...

Entschuldigung, wo war ich gerade? Ist das wirklich wahr, daß ich sagen kann, was ich will? Stimmt das? Sag es mir. Zuerst konnte ich es nicht glauben. Und eigentlich kann ich es immer noch nicht glauben. Die Zeiten ändern sich. Und ich höre schon wieder das Gerede vom Frieden. Geschrei geradezu. Das ist schlecht. Friedensgeschrei bedeutet meistens das Gegenteil. Ich kenne das. Ich hab's erlebt... Es muß doch einen Grund haben, warum du gekommen bist, warum du ausgerechnet mich besucht hast und jetzt hier bist mit deinem kleinen Maschinchen.

Es funktioniert doch, oder? Du weißt, daß ich nichts zweimal sagen werde. Es wird Leute genug geben, die ihre Geschichten erzählen wollen. Jetzt haben wir natürlich all die Zeugenaussagen, jeder hat was zu erzählen, man macht ein Riesentheater, alle schreien, und jeder war – ist das nicht schön? – gegen die Tyrannei. Und ich bezweifle das auch nicht. Oh, aber damals! Wer trug da nicht irgendein kleines Abzeichen am Kragen, natürlich alle verliehen vom Regime? Und du find raus, ob dein Vater nicht auch bei der Miliz war, oder hat er vielleicht freiwillige Einsätze gemacht? Freiwillig, ja, das war das Wort dafür. Sogar als Castro gestürzt wurde und beinahe als castrista exekutiert worden wäre. Wie grauenhaft!

Was mich gerettet hat, waren die Briefe, die ich an meine Schwester im Exil geschrieben habe. Was, wenn ich die nicht mehr hätte? Sie mußte sie mir so schnell wie möglich zurückschicken, andernfalls wär' ich jetzt schon tot und unter der Erde. Und deshalb hab' ich mich auch nicht getraut, das Haus zu verlassen, denn einiges, vieles, ist immer noch da. Und ich will dem nicht zu nahe kommen. Ich... du bittest mich also zu reden, meinen Beitrag zu leisten, zu kooperieren – ach, Entschuldigung, so nennt man das heute ja nicht mehr – mit allem, was ich weiß, als eines der Opfer, weil du ein Buch oder irgend etwas darüber schreiben willst. Ein doppeltes Opfer, wirst du schreiben müssen. Oder ein dreifaches. Oder besser noch: ein von den Opfern zum Opfer gemachtes Opfer. Na ja, du wirst schon was finden. Schreib, was du willst. Du brauchst es mir nicht zu zeigen. Ich will es gar nicht sehen.

Aber ich will meine Redefreiheit nutzen, um dir zu sagen, daß du ein Geier bist. Truthahngeier nannten wir die früher. Sind die alle eliminiert worden? Braucht man sie nicht mehr? Was für wunderbare Vögel! Sie lebten von Aas, von Leichen, und dann verschwanden sie hoch in die Lüfte. Warum sind sie eliminiert worden? Haben sie nicht die ganze Insel immer schön saubergehalten, egal unter welchem Regime? Und wie die sich vollgeschlagen haben... Vielleicht haben sie sich vergiftet an den Leichen derer, die von der Gerichtsbarkeit hingerichtet wurden – sagt man das heute noch so? – ich meine, bei euch...

Hör mal, stell deinen Apparat mal näher ran. Schnell, ich hab's eilig, ich bin alt und müde. Und ehrlich gesagt bin auch ich vergiftet worden. Dieser Apparat – läuft er auch? – war früher sehr beliebt, obwohl die meisten Leute in der Regel nie wußten, wann er benutzt wurde... Heute ist es so, daß du mir erzählst, was du damit machen willst und warum du zu mir gekommen bist. Und keiner sitzt an der Ecke und paßt auf, oder? Und keiner wird anschließend kommen und mein Haus durchsuchen, nachdem du gegangen bist. Oder?

Aber ist auch egal, ich hab' nichts zu verbergen. Und es stimmt doch, daß ich sagen kann, wofür oder wogegen ich bin? Hier und jetzt könnte ich, wenn ich wollte, gegen die Regierung stänkern, und nichts würde passieren? Na ja, vielleicht. Meinst du, daß es so ist? Ja, das ist heute alles so. Da drüben an der Ecke haben sie vorhin Bier verkauft. Da war ein Riesenkrach. Musik nennen sie das. Und die Menschen sehen nicht mehr so runtergekommen aus und nicht mehr so angespannt. Es gibt keine Spruchbänder mehr in den Bäumen. Die Leute gehen wieder aus, ich kann das sehen, und man darf traurig sein, ich meine wirklich traurig, mit deiner ganz eigenen Traurigkeit, meine ich. Die Menschen haben zu essen, sie haben etwas vor, haben Träume (haben sie Träume?), und sie ziehen helle, bunte Sachen an. Aber ich glaube immer noch nicht daran, das hab' ich dir ja schon gesagt. Ich bin vergiftet. Ich hab' zuviel gesehen...

Aber, na ja, wir sollten jetzt endlich zur Sache kommen, zu dem, was du hören willst. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt müssen wir arbeiten, oder? Früher war immer die Hauptsache, so zu tun, als ob man arbeitet. Jetzt haben wir Ziele... Es ist eine ganz einfache Geschichte. Ja, natürlich. Aber egal, du verstehst diese Sachen sowieso nicht. Praktisch kann keiner sie mehr verstehen. Man kann so etwas nicht verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat, das ist fast immer so...

Er hat ein paar Bücher geschrieben, die müßten hier irgendwo rumstehen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht sind sie auch verbrannt worden, als das Regime gestürzt wurde. Damals, ganz am Anfang, ist so was natürlich vorgekommen. Ererbte schlechte Angewohnheiten. Ich weiß, wie schwer es war, all diese Tendenzen zu überwinden – kann man sie immer noch so nennen? Diese Bücher, wie du weißt, sympathisierten mit dem gestürzten Regime. Aber das ist alles Lüge. Man mußte in den Feldern arbeiten, und er machte das auch. Keiner wußte, daß er, wenn er wie ein Verrückter arbeitete, dies nicht aus Loyalität tat, sondern aus purem Haß. Du hättest mal sehen sollen, mit welcher Wut er die Erdschollen zerschlug, wie er säte, Unkraut vernichtete, grub. Damals kriegte er dafür Bonuspunkte. O Gott! – da wühlte ein solcher Haß in ihm, während er alles mitmachte, überall seinen Beitrag leistete. Wie er das alles gehaßt hat...

Sie machten aus ihm, er machte aus sich selbst einen Vorzeigejugendlichen, einen Spitzenarbeiter, er kriegte den Wimpel. Brauchte man einen für eine Extraschicht Wache: er meldete sich freiwillig. Brauchte man noch einen Arbeiter bei der Zuckerrohrernte: er ging hin. Schließlich gab es auch beim Militär nichts, dem er sich hätte entziehen können, wo doch alles offiziell war, patriotisch, revolutionär, und das heißt unentschuldbar. Und selbst nach dem Dienst war alles immer Zwang. Aber das war schon schlimmer, weil er da kein Jugendlicher mehr war. Er war ein erwachsener Mann und mußte überleben, das heißt, er brauchte ein Zimmer und einen Druckkochtopf zum Beipiel und eine Hose. Kannst du dir vorstellen, daß die Erlaubnis, ein Hemd zu kaufen und es dann wirklich auch zu bekommen, mit politischen Privilegien zu tun hatte? Ich seh' dir an, daß du mir nicht glaubst. Na ja, egal. Ich hoffe für dich, daß du das nie erleben mußt...

Weil er das System so haßte, redete er kaum; und weil er sowenig redete, widersprach er sich auch nicht, wie so viele andere. Die das, was sie gestern gesagt hatten, heute wieder zurücknehmen oder leugnen mußten; das nannte man dann ein dialektisches Problem. Und weil er sich nie widersprach, vertraute man ihm, und er wurde ein geachteter Mann. Er hätte nie die wöchentliche Sitzung gestört. Man hielt seine Haltung für Zustimmung, aber in Wirklichkeit träumte er vom Segeln, vom Reisen oder vom Woanderssein, im Lande des Feindes (so nannte man das), aus dem er mit einer Bombe zurückkommen würde; und während eben einer dieser Sitzungen – an denen er selbst so oft schweigend und applaudierend teilgenomen hatte – würde er sie auf eine Plaza voller Sklaven abwerfen...

Doch so bekam er für „beispielhaftes, diszipliniertes Verhalten und Pflichtbewußtsein im Lernkreis“ (so hießen damals diese Zwangssitzungen der politischen Indoktrination) noch eine Urkunde. Er war immer der erste, wenn es soweit war, aus der Granma (ich erinnere mich noch gut an den Namen) [die offizielle Zeitung; Anm. d. Ü.] vorzulesen – und zwar nicht, weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil sein Haß auf diese Zeitung so groß war, daß er, um seinen Ekel so schnell wie möglich zu überwinden (wie man das bei allem macht, was einen anwidert), einfach drauflos las. Wenn er seine Hand hob, um irgend etwas zu spenden – wir mußten immer öffentlich spenden – wie er da heimlich über sich selbst lachen mußte und innerlich explodierte...

Er meldete sich auch immer freiwillig zu vier oder fünf Extrastunden – und Gnade dir Gott, wenn du das nicht gemacht hast! Mit geschultertem Gewehr riß er seinen Zwangswachdienst herunter, und das Gebäude, das er bewachte, war noch vom alten Regime vor Castro gebaut. Er bewachte seine eigene Hölle. Wie oft hat er daran gedacht, sich selbst zu erschießen unter lauten Schreien wie „Nieder mit Castro“ oder etwas in der Art.

Aber das Leben ist anders. Menschen verändern sich. Weißt du, was Angst ist? Oder Haß? Weißt du, was Hoffnung ist? Oder völlige Hilflosigkeit?... Paß auf dich auf, und halte nichts für selbstverständlich, verlaß dich auf nichts. Selbst jetzt nicht. Jetzt sogar noch weniger. Weil alles so vertrauenerweckend ist, muß man gerade jetzt mißtrauisch sein. Später wird es zu spät sein. Dann muß man plötzlich wieder Befehlen gehorchen. Du bist jung, du weißt nichts. Aber dein Vater war bestimmt in der Miliz. Dein Vater bestimmt... Mach bei gar nichts mit. Geh weg, man kann doch das Land jetzt verlassen? Unglaublich. Wegzugehen.

„Wenn ich doch bloß weg könnte“, hat er immer gesagt, es mir ins Ohr geflüstert, wenn er von diesen ewig dauernden Veranstaltungen nach Hause kam, nach drei Stunden Händeklatschen. „Wenn ich abhauen könnte, einfach ins Wasser und losschwimmen, jeder andere Weg ist ja verbaut, oder hoch über dieser Hölle schweben und von allem weg...“ Und ich: „Beruhige dich, beruhige dich doch. Du weißt genau, daß es unmöglich ist. Fingernägelsplitter ist alles, was die Fischer zurückbringen. Da draußen gibt's den Befehl, jeden zu erschießen, selbst wenn er sich ergibt. Du kennst doch die Suchscheinwerfer...“ Zuweilen mußte er selbst diese Scheinwerfer warten, die Gewehre reinigen und blankputzen, die Instrumente seiner eigenen Unterdrückung bewachen. Und wie diszipliniert er war, wie leidenschaftlich er das machte, man könnte meinen, daß er sich durch sein Verhalten einen Schutzschild hatte schaffen wollen, damit sein wahres Wesen ja nicht durchscheint.

Und er kam erschöpft und schmutzig nach Hause, auf seinen Schultern die ständigen, anerkennenden Klapse, auf der Brust die Ehrenzeichen. „Oh, wenn ich doch bloß eine Bombe hätte“, sagte er dann zu mir, vielmehr: flüsterte er mir ins Ohr. „Ich hätte mich längst in die Luft gejagt. So eine Riesenbombe, wo alles andere mithochgeht und nichts übrigbleibt. Gar nichts. Nicht mal ich selbst.“ Und ich: „Beruhige dich um Himmels willen, sei still, sie können dich hören, mach dir mit deiner Wut nicht alles kaputt...“

Diszipliniert, höflich, hart arbeitend, diskret, bescheiden, normal, umgänglich, sogar extrem umgänglich, exakt angepaßt an das System eben genau deshalb, weil er das genaue Gegenteil war – wie hätte man ihn da nicht zum Parteimitglied machen sollen?

Gab es irgendeine Aufgabe, die er nicht erledigte? Und er war schnell. Und gab es jemals eine Kritik, die er nicht mit Demut entgegennahm?... Und dieser riesige Haß im Innern, dieses Gefühl der totalen Demütigung, Vernichtung, des Lebendig- Begrabenseins, unfähig, irgend etwas zu sagen und alles schweigend ertragen zu müssen. Und wie schweigend! wie begeistert!, um ja nicht noch mehr gedemütigt, fertiggemacht, vollkommen ausgelöscht zu werden. Damit er eines Tages vielleicht einmal er selbst sein könnte, sich rächen: etwas sagen, tun, leben... Wie oft hat er nachts in seinem Zimmer leise vor sich hingeweint, hier nebenan. Er weinte aus Wut und Haß. Ich könnte im ganzen Leben nicht alle seine Schmähungen wiederholen – es würde zu lange dauern.

„Ich kann nicht mehr“, sagte er zu mir. „Ich kann einfach nicht mehr.“ Und das stimmte. Er umarmte mich, ja, er umarmte mich – denn ich war ja auch mal jung, wir waren beide mal so jung, wie du jetzt bist. Obwohl, ich weiß nicht, vielleicht bist du gar nicht mehr so jung. Jetzt, wo jeder so gut ernährt ist... Er umarmte mich und sagte: „Ich halte es nicht mehr aus. Ich muß meinen Haß herausschreien. Ich muß die Wahrheit sagen“, flüsterte er mir halberstickt ins Ohr. Und ich, was hab' ich getan? Ich hab' ihn dann beruhigt. Ich hab' dann gesagt: „Bist du verrückt?“, und hab' seine Ehrenzeichen auf der Brust neu arrangiert. „Wenn du das machst, erschießen sie dich. Du mußt weiter so tun als ob, wie jeder andere auch. Sogar mehr als die anderen, mach ihn dadurch lächerlich. Beruhige dich, rede nicht so einen Unsinn.“

Er hat nie aufgehört, seine Aufgaben pflichtbewußt zu erledigen, und immer nur nachts war er diesen kurzen Augenblick lang er selbst, wenn er zu mir kam, um sein Herz auszuschütten. Niemals, auch jetzt nicht, wo man es offiziell darf und fast schon muß, habe ich jemanden das Regime so heftig angreifen hören. Er war ja im inneren Kreis, er wußte von allem, wußte von den kleinsten Verbrechen. Jeden Morgen ging er wieder hin, empört, aber still, ging zu den Versammlungen, zur Arbeit auf den Feldern, zum Sich-Melden, wenn Freiwillige gesucht wurden.

Er sammelte einiges an Verdiensten an. Und dann führte ihn die Partei – und du weißt nicht mal mehr, was das Wort damals bedeutete – in das Schreiben einer Serie von Biographien von hohen Funktionären ein. „Mach es“, hab' ich ihm gesagt, „sonst wirst du alles verlieren, was du aufgebaut hast. Das wäre das Ende.“ Und so wurde er berühmt. Sie machten ihn zu einer Berühmtheit. Er zog aus und bekam ein größeres Haus zugewiesen. Er heiratete die Frau, die sie für ihn ausgesucht hatten...

Ich hatte eine Schwester im Exil. Manchmal kam sie und besuchte mich. Und brachte unter großen Sicherheitsvorkehrungen seine Bücher mit. Erzählte mir die Wahrheit: daß sie alle Ungeheuer waren... Waren sie das? Oder waren wir die Ungeheuer? Was meinst du? Hast du etwas über deinen eigenen Vater herausgefunden? Hast du irgend etwas erfahren? Warum hast du dir ausgerechnet diesen verdorbenen Mann ausgesucht? Wer bist du eigentlich? Warum siehst du mich so an? Wer war dein Vater? Dein Vater...“

„Bei der erstbesten Gelegenheit hau' ich ab“, sagte er immer zu mir. „Ich weiß, daß alles streng überwacht ist, daß es fast unmöglich ist, abzuhauen, daß es viele Informanten gibt, viele Verbrecher. Und daß sie mich, selbst wenn ich es schaffen würde, dann im Exil umbringen würden. Aber vorher packe ich noch aus. Vorher werde ich wenigstens einmal sagen, was ich denke. Einmal werde ich die Wahrheit sagen...“ „Beruhige dich, rede nicht“, sagte ich ihm, und da waren wir nicht mehr so jung. „Mach keine Dummheiten.“ Und er: „Glaubst du, ich kann mein ganzes Leben lang so tun als ob? Verstehst du nicht, daß ich, wenn ich so lange gegen mein Selbst angehe, am Ende nicht mehr ich selber bin? Siehst du nicht, daß ich schon jetzt nichts anderes mehr bin als mein eigener Schatten, eine Marionette, ein Schauspieler, der nie von der Bühne herunterkommt, auf der er nur immer wieder zweifelhafte Gestalten spielen darf?“ Und ich: „Warte, warte noch!“ Und ich verstand ihn und weinte mit ihm. In mir war ja ebensoviel Haß, vielleicht sogar noch mehr – immerhin bin ich oder war doch eine Frau. Ich tat wie alle so als ob, mit heimlichen Verschwörungsgedanken in meinem Herzen. Und bat ihn zu warten. Und er schaffte es zu warten. Bis der Moment kam. Der kam, als das Regime gestürzt war. Er wurde als Agent der Castro-Diktatur vor Gericht gestellt und verurteilt (alles sprach gegen ihn). Er bekam die Höchststrafe: Tod durch Erschießen. Und als er da vor den befreienden Gewehren stand, schrie er: „Nieder mit Castro! Nieder mit der Tyrannei! Lang lebe die Freiheit!“ Er schrie bis zur letzten Kugel. Was von der Presse und der ganzen Welt als „feiger Zynismus“ gedeutet wurde. Aber ich sage dir – und bitte schreib es auf, für den Fall, daß dein Apparat nicht funktioniert – daß dies das einzige Mal in seinem ganzen Leben war, daß dein Vater laut gesagt hat, was er wirklich meinte. (Havanna, 1974)

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